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WISSENSCHAFT

„Wo sind meine Trans-Kolleginnen und -Kollegen?“

Prof. Dr. Georgios Paslakis forscht auch zu Ess- und Persönlichkeitsstörungen.  [Foto: MKK/Sven Olaf Stange]

11.05.2021 11:27 - Julia Segantini

Prof. Dr. Georgios Paslakis ist Leitender Arzt der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum. Der Experte für Persönlichkeitsstörungen plant Projekte zur Psychotherapie für vulnerable Gruppen wie ethnische oder sexuelle Minderheiten. Er will nicht nur mehr Angebote für diese Menschen schaffen, sondern gleich die Psychotherapie mitsamt der Lehrpläne für Medizinstudierende umkrempeln. Im Interview mit unserer Redakteurin Julia Segantini erzählt er mehr. 

ak[due]ll: Warum interessieren Sie sich besonders für vulnerable Gruppen? 

Paslakis: Es gibt Gruppen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die im Gesundheitssystem wenig Berücksichtigung finden. Dazu gehören zum Beispiel Menschen aus anderen Kulturkreisen oder Menschen mit sexuellen Identifikationsformen, die nicht den vorherrschenden entsprechen.

ak[due]ll: Geht es bei den besonderen Bedürfnissen zum Beispiel um Diskriminierungserfahrungen? 

Paslakis: Das ist ein Teil davon, ja. Menschen mit einer Trans-Identität haben zum Beispiel einen ganz anderen Lebens- und Leidensweg als jemand, der sich in unserer Gesellschaft als cis-heterosexuell empfindet. Da geht es um Aspekte wie Selbsthass und Ekel vor dem eigenen Körper und dem eigenen Leben, Scham, Stigma, Diskriminierung und Probleme mit Rollenbildern. Daraus ergeben sich andere Bedürfnisse. Das ist für Menschen, die sich mit solchen Dingen nie beschäftigen mussten, schwer nachzuvollziehen. Unser Gesundheitssystem und die Psychotherapie haben bislang wenig Angebote für diese Menschen. Das fängt schon damit an, dass diese Themen wenig Beachtung in der Ausbildung der Medizinstudierenden finden. Zur Zeit gibt es wenig Wissen, dafür aber viele Stereotype und Vorurteile – auch bei Ärztinnen und Ärzten.

ak[due]ll: Wie sieht der Entwicklungsprozess für solche Therapieformen aus?

Paslakis: Der erste Schritt ist, Lücken im System festzustellen. In unserem Fall ist das so: Es kommen Menschen in die Psychotherapie, für die es keine Konzepte gibt. Dann müssen wir Evidenz sammeln, also Beweise dafür, dass es diese Lücken auf einer breiten Ebene gibt. Zum Beispiel planen wir eine Befragung, um herauszufinden, was Medizinstudierende über gewisse Themen lernen. Wie ist das Studium aufgebaut, wo fehlen zum Beispiel LGBTIQ-Inhalte? Nicht nur Ärzte und Ärztinnen für Psychosomatische Medizin, sondern auch Frauenärzte, Chirurgen, Endokrinologen und alle möglichen anderen Ärztinnen und Ärzte benötigen mehr Wissen. Wenn wir festgestellt haben, was an welcher Stelle fehlt, ist der nächste Schritt, Interventionen zu planen. Wir schauen also, was im Lehrplan ergänzt werden muss. Ganz wichtig ist dabei, Betroffene in den Prozess zu involvieren. Wir besprechen mit ihnen, ob unsere Überlegungen Sinn machen oder ob wir etwas übersehen oder vergessen haben.

ak[due]ll: Die fehlenden Inhalte sind aber nicht die einzigen Punkte, an denen Sie ansetzen möchten. 

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Paslakis: In der Psychotherapie besprechen wir viele abstrakte und komplizierte Themen. Psychotherapeutinnen und -therapeuten benutzen dabei oft eine Sprache, die nicht so leicht zu verstehen ist und das vergessen wir manchmal. Wir besprechen mit den Patientinnen und Patienten Themen wie Rollenbilder, emotionale Vernachlässigung, Grenzen und Grenzüberschreitungen. Das sind Konstrukte, die schwierig zu vermitteln sind. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben oft schon durch ihre Erkrankungen Schwierigkeiten, Inhalte zu verstehen, zum Beispiel aufgrund gestörter Konzentration und Gedächtnisstörungen. Mein Bestreben ist daher, Psychotherapie in einfacherer Sprache anzubieten. Wir planen deshalb Projekte dazu, wie man psychotherapeutische Inhalte besser zugänglich machen kann, indem wir die Sprache und Kommunikation optimieren.

ak[due]ll: Sind andere Länder schon weiter als Deutschland was Therapien für vulnerable Gruppen angeht?

Paslakis: In Nordamerika gibt es solche Programme schon für Medizinstudierende. Dort wurde auch in Studien gemessen, wie der Wissenszuwachs Vorurteile reduziert. Ich habe eine Zeit lang in Toronto gearbeitet und nach meiner Rückkehr nach Deutschland fiel mir auf, dass es hier anders ist. Ich habe mich gefragt, wo sind meine Trans-Kolleginnen und -Kollegen? In Toronto war es üblich, dass ich mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammen gearbeitet habe.

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