SCHWERPUNKT
In chinesischen Arbeitslagern in der autonomen Region Xinjiang sollen über eine Million Uigur:innen festgehalten werden. Verschiedene Staaten wie die USA und die Niederlande werfen der Volksrepublik China massive Menschenrechtsverletzungen und Völkermord vor. So wolle Peking die muslimische Minderheit und ihre Kultur systematisch auslöschen, argumentieren Expert:innen. Wir werfen einen Blick auf die Fakten und sprechen mit einer uigurischen Studentin darüber.
Triggerwarnung: Extreme körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt
„Wenn ich über meine Vergangenheit oder meine Heimat rede, geht es mir schlecht“, sagt Gülnur*. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Schon im Vorfeld zum Gespräch mit der Gastautorin macht sie deutlich: „Ich muss meine Familie schützen.“ Seit 2017* studiert sie an der Universität Osnabrück* Germanistik*. Das Studium sei sehr anspruchsvoll, aber „ich liebe diesen Studiengang“, sagt sie. Ihre Heimat liegt im Nordwesten Chinas, wie auch die Autonome Region Xinjiang. Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Menschenrechtsorganisationen bewiesen schon 2019, dass Kasach:innen und Kirgis:innen, vor allem aber Uigur:innen, in der Volksrepublik China systematisch verfolgt und in Arbeitslagern in Xinjiang festgehalten werden.
Ihr Cousin verbrachte einige Wochen in einem der Lager. Nach seiner Rückkehr litt er an extremen körperlichen und psychischen Beschwerden, brachte mehrere Krankenhausaufenthalte hinter sich. „2018 habe ich zwei Freunde wegen der Zustände in den Lagern verloren“, erzählt Gülnur. Sie seien vier Wochen nach der Entlassung gestorben. Eine Aufklärung über die Todesursache habe nicht stattgefunden und eine traditionelle Bestattung habe man der Familie verwehrt. Weiter darüber reden möchte sie nicht.
Die Auslöschung einer Kultur
Das muss sie auch nicht, denn die kürzlich veröffentliche Studie vom Newlines Institute for Strategy and Policy liefert genügend Beweise und Details für die Vorgänge in den Lagern. Auf 55 Seiten legt das US-amerikanische Forschungsinstitut dar, warum China sich durch die Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigur:innen des Völkermords schuldig macht. Der Studie zufolge erhielten chinesische Beamte Befehle, die Uigur:innen „vollständig auszurotten ... sie mit Haut und Haaren zu vernichten“ und „ihre Wurzeln zu zerstören“. Beamte beschrieben Uigur:innen mit entmenschlichenden Begriffen und verglichen ihre Masseninternierung mit der „Ausrottung von Tumoren“.
Der Bericht beschreibt zudem massive Menschenrechtsverletzungen wie die umfassende Überwachung uigurischer Familien, zum Beispiel durch Apps, Gesichtserkennung und Schadsoftware. Auf massenhafte Festnahmen folgten Aufenthalte in Gefängnissen und großangelegte Zwangsarbeit. Dabei erlitten viele Folter und Demütigung. „Die Masseninternierung und die damit verbundenen Regierungsprogramme dienen der Indoktrinierung und ‚Reinwaschung‘ der Gehirne“, schreibt das Forschungsinstitut.

In den Lagern würden uigurische Frauen gezwungen, sich Spiralen einsetzen zu lassen, abzutreiben und Injektionen oder Medikamente erhalten, die ihren Menstruationszyklus stoppen, während uigurische Männer im zeugungsfähigen Alter gezielt interniert würden. Das gehöre zur systematischen Kampagne zur Verhinderung von Geburten. Die Studie resümiert: „Als Ergebnis dieser miteinander verknüpften Maßnahmen nähern sich die Wachstumsraten in uigurisch geprägten Gebieten zunehmend dem Nullpunkt“. Die Zwangssterilisation wurde seitens Chinas lange geleugnet, inzwischen legitimiert die Regierung diese als Beitrag zur Emanzipation der uigurischen Frauen, sie sollen nicht länger „Gebähr-Maschinen“ sein.
Wenn Gülnur über diese Dinge nachdenkt, muss sie oft schwer ausatmen, manchmal vergräbt sie ihre Gesicht in ihren Händen oder rauft sich das Haar. Sie wechselt das Thema. Als sie über ihre Kultur spricht, breitet sich sofort ein breites Grinsen über ihrem Gesicht aus. Sie strahlt, als sie ihre uigurischen Bücher aus dem kleinen Regal in ihrem geräumigen Einzelapartment zieht. „Erstausgaben“, sagt sie stolz. „Die 2., 3. und 4. Auflage wurden immer mehr zensiert.“
Ihr Handy ist voll mit Bildern von uigurischen Gerichten. Mit leuchtenden Augen erzählt sie, wie man Polo zubereitet, ein typisch uigurisches Gericht mit Lammfleisch und Gemüse. In China ist es als Uigur:in schwierig, die Kultur auszuleben, denn sie wird schrittweise ausgelöscht. „Infolge von Kampagnen der Regierung haben die lokalen Behörden die uigurische Bildung abgeschafft, uigurische Architektur und Haushaltsgegenstände zerstört und die große Mehrheit der Moscheen und heiligen Stätten in der Region beschädigt, verändert oder ganz abgerissen“, heißt es im Bericht vom Newlines Institute.
Für den Kampf gegen den Terror
Wie rechtfertigt Peking die Vorgänge in Xinjiang? 2014 startete Chinas Staatschef Präsident Xi Jinping den „Volkskrieg gegen den Terror“ und fokussierte sich auf die Gebiete, in denen Uigur:innen fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Um gegen islamistischen Terror vorzugehen, richtete die Volksrepublik „Berufsausbildungszentren“ ein. Menschen mit radikalen Tendenzen erhielten dort Bildung, denn mangelnde Bildung führe zu Armut und diese wiederum zu extremistischen Gedanken, so die offizielle Begründung. Unglaubwürdig ist das unter anderem deshalb, weil auch hochrangige Professor:innen nicht vor Festnahmen sicher sind.
Ein weiterer Grund für die Unterdrückung der Uigur:innen liegt in den wachsenden Unabhängigkeitsbestrebungen Xinjiangs, die der chinesischen Regierung schon lange ein Dorn im Auge sind. Eine Abkapselung der Region hätte extreme wirtschaftliche Folgen für das Land, weil dort riesige Rohstoffvorkommnisse liegen und die wichtigste Handelsroute, die Seidenstraße, für Exportgeschäfte zwischen der Volksrepublik und Zentralasien sowie Europa dort verläuft.

Mit zunehmendem Druck gehen chinesische Behörden deshalb gegen Uigur:innen vor. Die Gründe für eine Festnahme scheinen willkürlich; Kontakte ins Ausland, das Besuchen bestimmter Webseiten oder das Tragen eines Kopftuchs reichen in den Augen der Behörden aus. Gestützt werden sie durch das 2015 beschlossene Anti-Terrorgesetz, das den Begriff „Terror“ sehr weit fasst und willkürliche Handlungen erleichtert. Laut Schätzungen des Newlines Institute werden derzeit 1 bis 2 Millionen Uigur:innen in den Lagern festgehalten. „Das sollen alles Terroristen sein?“, empört sich Gülnur.
„Irgendwann werden wir frei sein.“
Nicht erst seit Uigur:innen mit Terrorist:innen in Verbindung gesetzt werden, haben sie in China mit Rassismus zu kämpfen. Ständig würden sie aufgefordert, in „ihr Land“ zurückzukehren. „Die Uiguren leben seit über 4.000 Jahren hier. In welche Heimat sollen wir zurückkehren?“, entrüstet sich die Studentin. Die muslimische Minderheit wird zunehmend aus der Region verdrängt, immer mehr Han-Chines:innen bevölkern das Gebiet. Die Han machen rund 92 Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas aus. Durch die systematische Ansiedlung in Xinjiang machen sie dort mittlerweile einen Bevölkerungsanteil von rund 40 Prozent aus.
Osnabrück sieht Gülnur inzwischen als ihr zweites Zuhause, hier fühlt sie sich freier. Kontakt hat sie nur zu ihren Eltern. Die Kommunikation läuft über den chinesischen Messengerdienst WeChat; WhatsApp ist in China verboten. Telefonieren können sie nicht, ihre Eltern könnten sonst deportiert werden. Zu anderen Verwandten hat sie deshalb keinen direkten Kontakt. Mit ihren Eltern redet sie vor allem über die Uni: „Sie sagen immer, konzentriere dich auf dein Studium, mach’ keine Politik gegen China.“ Mit öffentlichen Äußerungen hält sie sich deshalb zurück.
Dass im Moment so viel über Xinjiang gesprochen wird, belastet sie sehr. Auch wenn die Lager rund 5.500 Kilometer von Osnabrück entfernt sind, denkt sie oft an das, was ihre Landsleute erleiden. Vor allem in den vergangenen Jahren kämpfte Gülnur mit Depressionen und Suizidgedanken. Trotzdem findet sie wichtig, dass über die Uigur:innen in Xinjiang gesprochen wird. Ein fader Beigeschmack bleibt dennoch. Weil dem Thema bis vor kurzem wenig Interesse entgegengebracht wurde, hat sie nicht das Gefühl, Europa ginge es vorrangig um die Menschenrechte. Sie formuliert das so: „Uiguren sind wie Schachfiguren.“ Jahrelang habe man die Berichte über die Lager ignoriert. Jetzt, da China Wirtschaftssanktionen gegen Deutschland erhebt, nutze man die Uigur:innen als eine Art Ausrede, um Peking abzustrafen. Sie wünscht sich eine klare Haltung und mehr Hilfe für die Uigur:innen. Allen Optimismus lässt sie sich aber nicht nehmen: „Wir leben immer mit Hoffnung. Irgendwann werden wir frei sein.“
*Name, Studienbeginn, Wohnort und Studiengang wurden geändert