SCHWERPUNKT
75 Jahre sind seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vergangen. Noch immer wehre sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung, Verantwortung für die Taten des Nationalsozialismus zu übernehmen, meint Prof. Dr. Samuel Salzborn. Er ist Politikwissenschaftler und setzt sich in seinem neuen Buch Kollektive Unschuld mit der deutschen Abwehr von Schuld in Bezug auf den Holocaust auseinander. Unsere Redakteurin Julia Segantini hat ihn interviewt.
ak[due]ll: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gilt in Deutschland als Erfolgsgeschichte. Woran liegt das?
Salzborn: Meines Erachtens gibt es dafür zwei Gründe. Wir haben einige Großdarstellungen und wir haben vor allem viele kleine Detailstudien über einzelne Themenfelder, Tätergruppen und lokale Beispiele. Das legt nahe, dass eine Aufarbeitung wissenschaftlich sehr weitreichend gediehen ist, und das ist durchaus auch zutreffend. Die andere Seite ist, dass es dabei um ein gewisses Selbstbild einer linksliberalen politischen Elite geht, also einem ganz kleinen Teil der Gesellschaft. Dieser kleine Kreis hält das für den Gesamtausdruck der Gesellschaft. Dabei übersehen sie, dass in der großen Masse der Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht nur nicht stattgefunden hat, sondern dass sie nachhaltig abgewehrt wird. Das verbindet sich oft mit Antisemitismus. Es gibt insofern eine Illusion über eine Erfolgsgeschichte der Aufarbeitung, die eine Illusion eines kleinen Teils der Gesellschaft ist.
ak[due]ll: Wie funktioniert diese Schuldabwehr?
Salzborn: Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik zwei große Debattenfelder, bei denen ich sagen würde, dass sie elementar miteinander zu tun haben. Das eine ist die Abwehr von Schuld und Verantwortung in Bezug auf den Nationalsozialismus. Auch in der Art und Weise, wie man sich in der Geschichte mit den Tätern befasst hat, kann eine solche Abwehr noch erfolgen. In den 50er und 60er Jahren war ein typisches Beispiel, dass man die Täterschaft auf die Person von Hitler reduziert hat. Oder man hat eine Externalisierung vorgenommen, bei der bestimmte Tätergruppen als besonders bestialisch dargestellt wurden. Mit beiden Varianten hat man es geschafft, die normale Bevölkerung von Schuld und Verantwortung freizusprechen. Das haben wir auch im Bundestag: Eines der ersten Gesetze, die der Bundestag 1949 nach Konstituierung der Bundesrepublik beschlossen hat, war ein Straffreiheitsgesetz. Damit ist die Grundlage gesetzt worden, dass Täterinnen und Täter überhaupt nur noch in sehr kleinem Maße verfolgt werden konnten. Das ist das, was die Antisemitismusforschung „schuldabwehrenden Antisemitismus“ nennt.
ak[due]ll: Gibt es noch weitere Mechanismen, die bei der Schuldabwehr greifen?
Salzborn: Die andere Seite ist die Täter-Opfer-Umkehr. Die Flüchtlinge und Vertriebenen, die auf einer rechtlich bindenden Grundlage von den Alliierten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ausgewiesen worden sind, werden zu Opfern deklariert. Was dabei ausgeblendet wird, ist, dass es zu Flucht und Vertreibung nach dem Krieg niemals gekommen wäre ohne die deutsche Eroberungs- und Expansionspolitik. Der Nationalsozialismus hat die Shoah mit einer völkischen Neuordnungspolitik verbunden, bei der die späteren Flüchtlinge und Vertriebenen die Schlüsselrolle gespielt haben. Die sollten die deportierten Jüdinnen und Juden und andere Ermordete letzten Endes ersetzen. Hier werden Flüchtlinge und Vertriebene zu einem Mythos kollektiver Unschuld aufgebaut. Dabei wehrt man auf der einen Seite Schuld und Verantwortung ab und steigert sich auf der anderen Seite in einen Opfermythos hinein, der historisch, juristisch und politisch nicht haltbar ist.
ak[due]ll: Können Sie das mit der Täter-Opfer-Umkehr genauer erklären?
Salzborn: Die Täter-Opfer-Umkehr meint, dass man aus Tätern Opfer macht oder umgekehrt. Das passiert insbesondere im Antisemitismus, wenn Jüdinnen und Juden so etwas wie eine Mitschuld unterstellt wird. Oder wenn man Jüdinnen und Juden mitverantwortlich dafür macht, dass jetzt eine Erinnerungspolitik stattfindet. Die Selbststilisierung als Opfer, sich also selbst zum Opfer zu erklären, ist eine Facette davon. Es geht immer um die Frage, wie man Täter und Opfer beschreibt.
Die große Gefahr ist, dass man die Macht der Erinnerung und vor allem der Erinnerungsabwehr für neuen Antisemitismus unterschätzt.
ak[due]ll: Was bedeutet diese Schuldabwehr für das deutsche Selbstbild?
Salzborn: Das Spannungsverhältnis ist so: Was wir aus der historischen Forschung wissen, ist, dass der Anteil derjenigen, die auf irgendeine Weise Jüdinnnen und Juden unterstützt haben oder Widerstand geleistet haben, unter einem halben Prozent lag. Jüngste Zahlen beweisen, dass aber 30 bis 40 Prozent der Menschen heute glauben, dass ihre Familienangehörigen in der Opposition gewesen seien oder gar Jüdinnen und Juden unterstützt hätten. Das heißt, es gibt ein ganz großes Auseinanderklaffen. Das zeigt, dass man auf einer entpolitisierten Ebene moralisch verstanden hat, dass der Nationalsozialismus verurteilenswert ist, aber dass das überhaupt nicht mit Inhalt gefüllt ist. Man hat sich überhaupt nicht selbstkritisch damit auseinandersetzt, was die eigene Familiengeschichte ausmacht. Stattdessen agiert man mit Lügen und Mythen, um sich moralisch bequem auf der richtigen Seite einzurichten. Es wird nicht die Frage gestellt, in welcher Weise die Groß- und Urgroßeltern ins Regime involviert waren. Dass sie es aber in irgendeiner Form waren, zeigt das halbe Prozent der Bevölkerung, das Widerstand geleistet hat. Im Selbstbild wird hingegen angenommen, niemand sei wirklich überzeugter Täter gewesen, das wird aber massiv verdrängt und abgewehrt.
ak[due]ll: Es gibt also ein Auseinanderklaffen zwischen öffentlicher und privater Erinnerung?
Salzborn: Ja. Das wesentliche Problem in der öffentlichen Erinnerung besteht darin, dass man dieses Auseinanderklaffen nicht begreift. Man sieht nicht, dass über Jahrzehnte hinweg jede Form von Auseinandersetzung verschlafen wurde und letzten Endes bis heute nicht in Angriff genommen wird, wenn wir uns den Schulunterricht und die Lehrpläne anschauen. Die große Gefahr ist, dass man dadurch die Macht der Erinnerung und vor allem der Erinnerungsabwehr für neuen Antisemitismus unterschätzt.
ak[due]ll: Wie weit ist Deutschland also in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus?
Salzborn: Wenn es um die substantiellen Fragen geht, also inwiefern es das in breiten Teilen der Bevölkerung gegeben hat, würde ich sagen, steht Deutschland nach wie vor ganz am Anfang. Was fehlt, ist ein eigenes Anliegen in der deutschen Bevölkerung, das als Problem zu sehen und die eigene Vergangenheit nicht immer beschönigen zu wollen. Das ist einer der großen fehlenden Impulse, der zwar mittlerweile lange verschleppt ist, der aber in jeder Familie von jeder neuen Generation mit ganz einfachen Fragen angestoßen werden kann. Die sind sicherlich schmerzhaft und führen zu Streit. Aber solange man sie nicht stellt, wird sich die Last der Erinnerungsabwehr immer weiter tragen.
ak[due]ll: Für viele ist es sicherlich schwierig, sich mit den Großeltern an den Tisch zu setzen und darüber zu reden.
Salzborn: Meine Wahrnehmung ist, dass sehr viel Bereitschaft zu grundsätzlichen Gesprächen da ist. Nicht über Details, aber zum Beispiel über Alltagserfahrungen. Je mehr Generationen diese Fragen nicht stellen, desto größer wird auch der Glaube, wie furchtbar die Antworten sein könnten. Und natürlich wird es in einigen Familiengeschichten so sein, dass es bei den Großeltern und Urgroßeltern um handfeste Mörderinnen und Mörder oder aktive Mitglieder der SS oder Wehrmacht geht. Das wird sich nicht vermeiden lassen. Aber es wird auch vorkommen, dass eben kein Widerstand geleistet wurde, man in der Hitler-Jugend und im Bund Deutscher Mädel war und die Ideologie auch eine Zeit lang geglaubt hat. Das sind alles Dinge, die schrecklich sind, aber die eine andere Dimension haben. Ohne diese Fragen zu stellen, wird man nie die realen Antworten bekommen. Auch wenn die Unterstützung in der Bevölkerung gigantisch groß war, sah diese Unterstützung ja sehr unterschiedlich aus. Eine Auseinandersetzung damit könnte auch bedeuten, einzuschätzen, was es mit der eigenen Familiengeschichte in dem Zusammenhang auf sich hat.