SCHWERPUNKT
Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gibt es seit mindestens 1.700 Jahren jüdisches Leben. Feste und Bräuche sind identitätsstiftend für Jüd:innen und reichen von Trauer- bis zu Feiertagen. Wie die Tage begangen werden und zu welchen Anlässen Gemeindemitglieder zusammenkommen, erklärt David Geballe, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen (JGD).
Weihnachten und Ostern sind in Deutschland gesetzliche Feiertage. Der Sonntag gilt als Ruhetag. Während christliche Trauer- und Feiertage einen offiziellen Status haben und somit einem Großteil der Bevölkerung bekannt sind, trifft das auf jüdische Feiertage nicht zu. Das Judentum in Deutschland ist vor allem durch Synagogen und jüdische Gemeinden präsent, die an ihren Bräuchen festhalten.
Jom Kippur: der heiligste jüdische Tag
Jüdische Feiertage beginnen bei Sonnenuntergang und enden mit Einbruch der Dunkelheit des folgenden Tags. Der höchste jüdische Feiertag ist Jom Kippur, der auch als Versöhnungstag bekannt ist. Der Feiertag fällt im jüdischen Kalender auf den zehnten Tag des Monats Tischri, der üblicherweise von September bis Oktober geht. Wörtlich übersetzt heißt er: „Tag der Sühne“. „Das ist der Tag, an dem wir aufgrund unserer Sünden vor Gott geradestehen. Wir alle sind Menschen. Irren ist menschlich“, erklärt David Geballe, Oberrabbiner der JGD. An Jom Kippur machen Gläubige sich selbst bewusst, wer sie sind und was sie falsch gemacht haben, um dann mit diesem Wissen vor Gott ins Reine zu kommen.
Die Gemeinde kommt in der Synagoge zusammen, um den Tag über zu beten. Dabei wird kollektiv um Verzeihung gebeten. Jom Kippur ist einer der wenigen Tage, an dem das Trauergebet Jiskor für Verstorbene gesprochen wird. Die Gläubigen beten, fasten und verzichten auf körperliche Annehmlichkeiten wie Baden, Körperpflege oder Geschlechtsverkehr. Selbst viele weniger religiöse Jüd:innen versuchen, Jom Kippur einzuhalten und zum Gebet in der Synagoge zu erscheinen. Wer anderen geschadet hat, muss seinen Fehler korrigieren. Beispielsweise muss ein:e Dieb:in der geschädigten Person das Diebesgut zurückgeben und sich entschuldigen.
Simon* ist jüdischen Glaubens. Die Feiertage spielen in seinem Leben aber eine eher untergeordnete Rolle, er ist mit ihnen nicht groß geworden. „Das streng Religiöse ist mir nicht so vertraut. Es ist in meinem Alltag nicht präsent.“ Durch eine ältere jüdische Bekannte, die mit den Bräuchen aufgewachsen ist, hat Simon zu ihnen einen neuen Zugang gefunden. Er erinnert während Jom Kippur an verstorbene Angehörige; bittet bei Freunden und Familie um Versöhnung und arbeitet Dinge auf, die im Vorjahr vorgefallen sind. „Aber in die Synagoge gehe ich nicht”, erklärt Simon.
Sukkot: Fest der Laubhütten
Fünf Tage nach Jom Kippur wird das einwöchige Laubhüttenfest Sukkot gefeiert. Das Fest hat zwei Bedeutungen: Gläubige erinnern an die 40-jährige Wüstenwanderung nach dem Auszug der Israelit:innen aus Ägypten. Sie lebten in dieser Zeit in selbstgebauten Laubhütten. Vergleichbar ist der Feiertag mit dem christlichen Erntedankfest. Die Sukka – hebräisch für Laubhütte – wird unter freiem Himmel errichtet und darf kein festes Dach haben.
Stattdessen wird die Sukka mit Stroh, Ästen, Laub und Zweigen oder Bambusmatten bedeckt. Während der sieben Tage von Sukkot zieht man aus seinen eigenen vier Wänden aus und in die Sukka ein. In ihr werden gemeinsam mit der Familie Mahlzeiten eingenommen und falls es das Wetter zulässt, auch übernachtet. Jede Gemeinde besitzt ihre eigene Laubhütte, die für Sukkot errichtet wird, erklärt Rabbiner Geballe. Speziell zum Laubhüttenfest wird ein Feststrauß aus drei Bestandteilen vorbereitet: Lulav (Palmzweig), Hadass (Myrtenzweig) und Aravah (Weidenzweig). Die Gaben werden zusammengebunden und bilden mit Etrog (Zitrusfrucht) die Arba Minim (vier Arten). An den morgendlichen Gebeten wird der Feststrauß mit dem Etrog zu Sukkot geschüttelt. Hier dankt man für Regen und Ernte im letzten Jahr und betet für eine ertragreiche kommende.
Pessach: der Auszug aus Ägypten ist allgegenwärtig
Der acht Tage dauernde Feiertag Pessach ist ein erfreulicher Anlass. Das Fest fängt am 14. Tag des Monats Nisan an, der gewöhnlich im März beginnt und im April endet. „Pessach ist das Erlangen der Freiheit nach der ägyptischen Sklaverei. Es ist die Freiheit, Gott zu dienen. Erst durch Pessach ist das jüdische Volk zum Volk geworden“, verdeutlicht Geballe. Der Sederabend ist der erste Tag von Pessach. Innerhalb der Familie werden die Geschehnisse des Auszugs aus Ägypten nacherzählt. Laut eines der Gebote (Mitzwot) der Tora sollen Eltern diese Geschichte an ihre Kinder weitergeben, erklärt Gabelle.

Pessach beginnt mit dem Sederabend, der eine rituelle Mahlzeit enthält. Auf dem Sederteller, der am Sederabend benutzt wird, finden sich üblicherweise sechs Zutaten: Beizah (ein gekochtes Ei), Seroa (ein Knochen mit gebratenem Fleisch), Charosset (süße Paste aus Früchten und Nüssen), Maror (bitteres Kraut wie Meerrettich oder Chicorée), Chaseret (Kraut wie Römersalat) und Karpas (Gemüse wie Radieschen, Sellerie oder Kartoffel). „Der Sederteller dient als didaktisches Hilfswerkzeug. Auf ihm sind Sachen vorhanden, um das Interesse des Kindes zu steigern. Warum ist da ein Knochen, warum liegt bitteres Kraut auf dem Teller? Das ist dann ein Frage-Antwort-Spiel, um die Familienmitglieder in die Erzählung einzubeziehen“, erklärt der Rabbiner.
Simon hat Pessach erst zwei Mal intensiv gefeiert. „Das ist ein sehr ritualisiertes Unterfangen, man liest zusammen aus der Haggada – einem jüdischen Buch – vor und geht Stück für Stück die Geschichte des Auszugs durch. Das ist interessant, weil die ganzen Dinge die man tut, total symbolisch sind.” Ihm gefällt, sich darauf einlassen zu können; es ist für Simon eine Art Wiederentdeckung der Bräuche.
Bar und Bat Mitzwa: der jüdische Übergangsritus
Für junge Jüd:innen gibt es einen ganz besonderen Tag, der ihr Leben und ihren Status verändert. Wenn sie ein gewisses Alter erreichen, gelten sie als Bar Mitzwa („Sohn des Gebots”) oder Bat Mitzwa („Tochter des Gebots”). Jüdische Jungen und Mädchen feiern dann ihre Religionsmündigkeit. „Jungen gelten mit 13 Jahren als Mann, Mädchen ab 12 Jahren als Frau. Mit dem jeweiligen Geburtstag ist man automatisch Bar oder Bat Mitzwa”, erläutert Geballe. „Ab diesem Zeitpunkt ist man verpflichtet, sich an alle Ge- und Verbote zu halten.“
Jungen lesen zusätzlich am Samstag nach ihrem 13. Geburtstag aus der Tora vor, um ihren neuen Status offiziell zu machen. Ein Jahr vorher findet ein spezieller Unterricht statt, der Gemeinsamkeiten mit dem Konfirmations- beziehungsweise Kommunionunterricht aufweist. Laut Geballe habe es sich in den letzten Jahrzehnten so entwickelt, dass die Bar oder Bat Mitzwa nach dem Samstag groß gefeiert werden, abhängig vom Geschmack und Portemonnaie der Eltern.
Schabbat: die Arbeit ruht
Im Judentum gilt der Samstag als Ruhetag. An diesem Tag – dem Schabbat – ist Arbeit nicht vorgesehen, die einzigen Ausnahmen gelten für Notärzt:innen oder andere lebenswichtige Berufe, so der jüdische Gelehrte. Leben an Schabbat zu retten ist nicht nur erlaubt, sondern eine Pflicht. „Jeder, dem das wichtig ist, findet normalerweise die Möglichkeit, den Schabbat zu beachten. Natürlich gibt es auch Gemeindemitglieder, die am Schabbat ganz normal arbeiten und einkaufen, das ist die absolute Realität.“
In seinem Bekanntenkreis stellt Simon fest, dass der Schabbat auf ganz eigene Art und Weise gefeiert wird; der Ruhetag wird nicht so streng genommen. Die Feiertage bieten ihnen Raum für das Beisammensein. „Man geht jetzt nicht unbedingt in die Synagoge, aber das ist ein Anlass, mit Freunden und Familie zusammenzukommen“, erklärt Simon.
Der Gottesdienst: zehn Männer müsst ihr sein
Im orthodoxen Judentum muss dreimal täglich gebetet werden: am Morgen, am Nachmittag und am Abend. Das geschieht zuhause oder in der Synagoge. „Die bestmögliche Form zu beten ist mit mindestens zehn anderen jüdischen Männern in der Synagoge“, so Geballe. „Die Tora ist in 54 Wochenabschnitte aufgeteilt. Davon wird an jedem Schabbat einer gelesen”.Wenn zehn jüdische Männer, die älter als 13 Jahre sind, zusammenkommen, spricht man vom Minjan. Sind es weniger, können bestimmte Gebete nicht gesprochen und durchgeführt werden.
Kaschtrut: Was ist koscher?
Zum Alltag gläubiger Jüd:innen gehören nicht nur Feier- und Trauertage, sondern auch andere religiöse Bräuche. Dazu zählen auch diverse Speisegesetze, die Kaschrut. Werden sie eingehalten, sind die Speisen koscher, also unbedenklich. Bei Tieren gelten besondere Regelungen: „Landtiere müssen gespaltene Hufen haben und Wiederkäuer sein. Fische müssen Schuppen und Flossen haben, ein Aal wäre zum Beispiel nicht in Ordnung“, fasst Geballe zusammen. Dazu müssen die Tiere auf spezielle Art geschlachtet werden: das Schächten.
Dabei kommt ein extrem scharfes Messer ohne Zähne zum Einsatz. Mit einem Schnitt werden die Arterien und Luftröhre des Tieres durchtrennt. Das Tier muss ausbluten, da der Verzehr von Blut gemäß Kaschrut verboten ist. Simon kennt die Speisegesetze, er hält sie aber nicht in jedem Fall ein. „Wenn ich auswärts esse, achte ich nicht unbedingt darauf. Ich versuche aber, kein Schwein zu essen.”
Koschere Produkte sind deutlich teurer als „normale”, was Simon davon abhält, sie zu kaufen. Auch dem Rabbiner der JGD ist bewusst, dass eine strikt koschere Ernährung schwierig sein kann, besonders im Hinblick auf Fleisch. Für andere Lebensmittel gebe es Listen die koschere Produkte, beispielsweise in Supermärkten, abbilden und an denen sich Jüd:innen orientieren können.
Unabhängig von unterschiedlichen Strömungen oder Religiosität sind die Gemeinden für Jüd:innen ein Ort, an dem sie zu unterschiedlichen Anlässen zusammenkommen, um gemeinsam das Judentum auszuüben und mit Leben zu füllen. Gebote wie Speisegesetze oder Feiertage sind ein Teil des vielfältigen jüdischen Lebens. Trotz mancher Widrigkeiten im Alltag von Gläubigen bieten Ge- und Verbote eine wichtige Orientierung und zeichnen das Judentum aus.
* Name von der Redaktion geändert