Studentische Monatszeitung für Duisburg, Essen und das Ruhrgebiet

SCHWERPUNKT

„Ich wollte mehr“ – Vom Arbeiter:innenkind zur Studentin

Melissa hat sich ihr Studium hart erkämpft. [Illustration: Jessie Vandalism]
30.03.2021 13:52 - Lena Janßen

Melissa ist 28 Jahre alt und studiert an der Universität Duisburg-Essen (UDE) im ersten Semester Psychologie. Dass sie studieren kann, ist für Melissa nicht selbstverständlich, denn sie kommt aus einer Arbeiterfamilie. Wir haben im Zuge des Schwerpunktes „Frauen* an der UDE“ mit Melissa über ihre Familie und die Hürden auf dem Weg ins Studium gesprochen.

„Nach meiner Geburt hat meine Mutter als Reinigungskraft gearbeitet“, erzählt Melissa an einem Dienstagnachmittag am Telefon. Ein persönliches Gespräch war aufgrund der Corona-Pandemie leider nicht möglich. „Mein Vater ist gelernter Bäcker. Das war nicht sein Traumberuf“, berichtet sie. „Er kommt aus einem geburtenstarken Jahrgang und hatte wenig Möglichkeiten, sich einen Beruf auszusuchen.“ Melissa kommt aus einer Arbeiterfamilie. Auch weitere Familienmitglieder haben keine Berührungspunkte mit Universitäten. Außer einem Onkel, der in Karlsruhe studiert hat. 

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Melissas Eltern trennen sich früh. Sie bleibt bei ihrem Vater, der eine neue Frau kennenlernt. Als Melissa 14 Jahre alt ist, erkrankt die neue Partnerin ihres Vaters und stirbt daraufhin. „Mein Vater ist dann in eine schwere Depression verfallen und hatte Alkoholprobleme“. Der kleinen Familie fehlt das Geld. Melissa muss früh Verantwortung übernehmen: „Ich musste meinen Vater unterstützen. Viel unseres Geldes ist leider für seinen Alkohol draufgegangen.“ Daraufhin nimmt sie ihren ersten Nebenjob an: Zeitung austragen. Über die Jahre hinweg arbeitet sie bei einer Fastfood-Kette und kellnert in Eisdielen. Trotzdem fehlt an allen Ecken und Enden das Geld.

Kein Geld zum Studieren

Mit 16 Jahren kommt bei Melissa zum ersten Mal der Wunsch auf, zu studieren. Doch schnell stellt sie für sich fest, dass ein Studium nicht in Frage kommen wird. „Ich habe mich finanziell im Stich gelassen gefühlt. Wir gehörten halt nicht zur höheren Mittelschicht, sondern zu der Zeit gehörten wir eher zur Unterschicht“, beschreibt sie ihre damaligen Gedanken. Nachdem Melissa ihr Fachabitur im Bereich Gesundheits- und Sozialwesen gemacht hat, beginnt sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Weiterhin ist sie der Überzeugung: „Ich wusste, für ein Studium brauche ich mich nicht bewerben, weil das kann ich nicht bezahlen. Einen BAföG Antrag wollte ich nicht stellen, weil ich mich damals geschämt habe.“ Der Grund: Melissa möchte nicht, dass das BAföG-Amt Einblick in die Konten ihrer Eltern erhält. Sie möchte ihre Eltern schützen: „Ich wollte nicht, dass sie ihre finanzielle Situation darlegen müssen.“ Außerdem ist der Kontakt zu ihrer Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits weitestgehend abgebrochen. 

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Drei Jahre lang zahlt Melissa auf ein Sparkonto ein. [Foto: Lena Janßen]
 

Nach ihrer Ausbildung zieht sie der Liebe wegen ins Ruhrgebiet. Dort arbeitet sie weiterhin als Krankenschwester, doch zufrieden ist sie damit kaum: „Ich hatte immer das Gefühl, der Beruf ist nicht genug. Ich wollte beruflich aufsteigen, denn in der Pflege ist Geld nicht breit gestreut.“ Melissa will mehr. 2014 macht sie ihren Fachwirt im Gesundheits- und Sozialwesen. Doch sie findet keine passende Stelle, die sie aus dem Pflegeberuf herausführt. Als sie von ihrer damaligen Mitbewohnerin, einer Studentin der UDE, mit in die Mensa am Essener Campus genommen wird, fasst sie einen Entschluss: „Ich gehör hierher. Ich will hier in dieser Mensa sitzen, ich möchte Studentin sein. Ich will dafür jetzt kämpfen.“

Jeder Cent wird umgedreht

Daraufhin eröffnet Melissa ein Sparkonto. Über drei Jahre hinweg zahlt sie jeden übriggebliebenen Cent auf das Konto ein, während sie weiterhin als Krankenschwester arbeitet. Der Traum ein Studium zu beginnen wird immer konkreter und rückt in greifbare Nähe. Als Melissa auf der Homepage der UDE recherchiert, entdeckt sie, dass auch beruflich Qualifizierte sich für ein Studium bewerben können. „Ich habe meine Unterlagen eingeschickt und wurde als beruflich Qualifizierte zugelassen“, schildert sie den Vorgang. „Danach konnte ich mich für Psychologie bewerben.“ Drei Prozent der zu vergebenen Studienplätze gehen an Personen mit einer beruflichen Qualifikation. Melissa hat Glück und bekommt im ersten Bewerbungsverfahren ihren lang ersehnten Studienplatz. „Ich war stolz wie Bolle“, freut sie sich über die Zusage zum laufenden Wintersemester.

Finanzielle Sorgen hat sie zurzeit keine. Sie lebt von ihrem Ersparten und hat sich für ein elternunabhängiges BAföG beworben, das bewilligt wurde. Zudem kann sie an einem Wochenende im Monat weiterhin als Krankenschwester arbeiten. „Ich komme ganz gut über die Runden und packe jetzt Geld auf mein Sparkonto, um das BAföG möglichst zeitnah zurückzahlen zu können“, schildert sie ihre aktuelle finanzielle Situation. Sie und ihre Familie sind stolz darauf, welche Hürden Melissa gemeistert hat, um ihren Wunsch zu studieren wahr machen zu können: „Meine Familie unterstützt mich, wo sie kann. Sie sind sehr interessiert. Sie wollen wissen, wie es an einer Uni abläuft und was ich später einmal mit meinem Studium machen möchte.“

Kurz bevor das Telefonat zum Ende kommt, hat Melissa noch ein Anliegen: „Ich möchte andere gerne dazu motivieren, dass man es auch ohne ein richtiges Abitur an eine Universität schaffen kann. Zum Beispiel als beruflich qualifizierte Person.“ Sie rät: „Bewirb dich, du kannst das schaffen!“
 

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