Studentische Monatszeitung für Duisburg, Essen und das Ruhrgebiet

SCHWERPUNKT

Gibt es eine Liebesformel zum Glücklichsein?

Immer mehr Menschen leben polyamor statt monogam.

[Illustration: Lisa Johanna Förster]

13.12.2021 10:36 - Saskia Ziemacki

Monogamie ist ein Konzept von Partnerschaft und Liebe, das immer häufiger hinterfragt wird. Im Fernsehen, in der Literatur, bei Dating-Apps oder im Bekannten- und Freundeskreis hören wir von Beziehungen, die offen oder polyamor sind. Doch was bedeutet das eigentlich, wie kommt es dazu und was bindet uns immer noch so stark an die eine Liebe fürs Leben?

„Ein einziger Partner oder eine einzige Partnerin muss alle Erwartungen erfüllen können, die man an eine Beziehung hat”, beginnt Sevtap Selvi, Duisburger Sexualpädagogin, das Gespräch. Das sei ein Bild in unserer Gesellschaft, das immer noch vorherrsche. „Häufig kommt es jedoch vor, dass Paare unterschiedliche Bedürfnisse haben, vor allem bei der sexuellen Interaktion“, erklärt Selvi. Dann müsse man im Beratungsgespräch schauen, ob der:die Partner:in das noch erfüllen kann. „Meist entsteht das Thema, weil die Person oder die Paare sich bereits vorher mit alternativen Beziehungsmodellen auseinandergesetzt haben“, so die Sexualpädagogin. Inwiefern das dann funktioniere, hänge immer davon ab, wie gleichberechtigt dieser Wunsch sei oder ob dieser Schritt eher als „Rettungsring” für die bestehende Beziehung verwendet wird, führt Selvi aus. 

Polyamorie

Aus dem Altgriechischen polýs ‚viel‘ und dem Lateinischen amor ‚Liebe‘ lässt sich 
Polyamorie wörtlich mit ‚viele Lieben‘ übersetzen. Es ist ein Beziehungskonzept, bei dem man sexuelle oder Liebesbeziehungen mit mehreren Partner:innen gleichzeitig eingeht. Dabei müssen alle Beteiligten wissen, dass sie sich in einer nicht-monogamen Beziehung befinden. Polyamorie ist zu unterscheiden von Polygamie, der sogenannten Vielehe, die per Gesetz in Deutschland verboten ist. 

Immer mehr Menschen denken darüber nach, ihre Beziehung zu öffnen. Das kann laut Selvi vor allem daran liegen, dass über das Thema in der Öffentlichkeit gesprochen wird: „Einzelne Erfahrungsberichte werden offen dargelegt, bei Freund:innen, Bekannten und im Fernsehen. Es wird langsam mit einem anderen Blick draufgeschaut.“ Das ist noch keine Selbstverständlichkeit, denn die Monogamie, der Wunsch nach der einen großen Liebe, ist tief in unserer Gesellschaftsstruktur verankert. „Das System an sich, der Kapitalismus, baut auf Paarbeziehungen auf und das hat sich nicht verändert“, so Selvi. Zurückzuführen ist es auf den Beginn der Sesshaftigkeit. Der Mensch hatte auf einmal Besitztum, das vererbt werden sollte. Damit wurde wichtig, von wem das Kind abstammte. Man musste wissen, wer der Vater war. Sexualität musste kontrolliert werden.

Wir sind keine Tiere. Oder?

Die monogame Lebensweise ist ein soziales Konstrukt, das es seit etwa zehntausend Jahren gibt. Davor hielt sich der Homo sapiens an weniger komplexe Beziehungsmodelle: Er verhielt sich wie die Menschaffenart Bonobo heute noch. Jeder hat Geschlechtsverkehr mit wem er möchte, sodass Kinder ohne identifizierbare Abstammung entstehen, die gemeinsam aufgezogen werden. „Hippieaffen“, wie sie die Max-Planck-Gesellschaft auch nennt, sind für ihr friedfertiges Miteinander, die Gleichberechtigung aller Geschlechter und ihr flexibles Sexualverhalten bekannt.

„Zum menschlichen System gehört eine klare Rollenverteilung“, ist sich Sexualpädagogin Sevtap Selvi sicher. „Viele Frauen sind nicht dahingehend sozialisiert, die eigenen Gelüste oder das Begehren anzuerkennen, geschweige denn ein Bedürfnis nach mehreren Partner:innen einzugestehen“, erklärt sie. Der geschichtliche Hintergrund spiele dabei auch eine Rolle: „Wir leben schon ewig in solchen Beziehungsstrukturen. Es ist eine große Herausforderung, da gedanklich herauszukommen“, so Selvi. 

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Sevtap Selvi ist Sexualpädagogin in der Praxis für Sexualität in Duisburg. [Foto: privat]
 

‚Weil es schon immer so war‘ ist eine Formulierung, die in unserer Alltagssprache eine monogame Beziehung als ‚normal‘ und ‚natürlich‘ erscheinen lässt. Begriffe wie Monogamie verlieren ihre kulturelle Bedeutung und werden zu einem Naturzustand. Die Sexualpädagogin argumentiert dagegen: „Wir sind nicht genetisch auf ein Beziehungsmodell veranlagt. Es ist schwierig, den Begriff Natürlichkeit zu verwenden, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der Natürlichkeit nicht mehr vorhanden ist.“ Trotzdem sind sich Wissenschaftler der US-amerikanischen „Nationalen Akademie der Wissenschaften" sicher:  Der Mensch sucht sich ein Vorbild an Primaten, von denen rund ein Viertel in einer sozialen Monogamie leben soll, um ihren Nachwuchs gemeinsam aufzuziehen. Sexuelle Kontakte mit anderen sind aber nicht ausgeschlossen.

Nur drei bis fünf Prozent der Säugetiere leben in dieser Form der Beziehung und das zum Teil auch nur während der Jungenaufzucht. Die Zoologin und Professorin in der Abteilung für Aquatische Ökologie an der Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Sabine Begall, arbeitet mit Tieren, die in diesem seltenen System leben: Afrikanische Graumulle zeigen lebenslange Treue und Monogamie. Warum sie so leben, ist nicht eindeutig nachgewiesen. „Wir argumentieren, dass die sehr langsame Entwicklung der Tiere in Kombination mit der unterirdischen Lebensweise dazu führen musste, dass die Weibchen auf die Hilfe des Männchens angewiesen sind“, erklärt Begall. Auch das menschliche Neugeborene entwickelt sich langsam und ist lange auf das „elterliche Nest” angewiesen. Doch kann das Tierverhalten auf den Menschen übertragen werden? Die Sexualpädagogin ist sich sicher: „Wir sind keine Tiere, wir sind anders sozialisiert.“ Überhaupt sei es schwierig, von einem generellen Menschen und einer generellen Veranlagung, die für oder gegen Polyamorie spreche, auszugehen, so Selvi.

Polygame Beziehungen kommen im Tierreich recht häufig vor, erklärt Prof. Begall. Den Begriff „Polyamorie” gebe es unter Zoolog:innen allerdings nicht: „Denn was heißt schon Liebe?“, so Begall. Bei einem polygamen Paarungssystem geht es darum, dass sich ein Männchen mit mehreren Weibchen paart oder umgekehrt. Eindrucksvoll seien für die Zoologin dabei die Breitfußbeutelmäuse aus Australien: „In der sehr kurzen Paarungszeit paaren sich die Männchen mit so vielen Weibchen wie möglich, um dann nach circa zwei Wochen vor Erschöpfung zu sterben. Machen sie es nicht, haben ihre Gene weniger Chancen in die nächste Generation zu kommen.“ Dabei geht es um einen Zweck, der erfüllt werden muss. Eifersucht spielt in der Tierwelt nur eine untergeordnete Rolle.

Die Angst vor den eigenen Gefühlen

Ein weiterer Grund, der den Menschen vom Tier unterscheidet und eine polyamore Beziehung häufig bereits beim Gedanken daran scheitern lässt: Wie kann man mit Eifersucht und Verlustängsten umgehen? Eine offene Beziehung gibt einem eine gewisse Art von Freiheit. „Freiheit kann auch angsteinflößend sein. Sie gibt einem das Gefühl, keinen Rahmen zu haben“, erklärt Selvi. Wichtig sei es jedoch, einen Freiraum zur Selbstentfaltung zu haben und genau dieses Gefühl versucht Selvi ihren Patient:innen zu vermitteln. Auch Eifersucht gehöre zwangsläufig dazu. „Und dass sie da ist, ist okay. Denn es gibt auch einen Umgang mit Eifersucht“, weiß die Sexualpädagogin. Das Gegenüber müsse es nur anerkennen, dann könne man darüber ins Gespräch kommen und sich fragen: „Was genau begründet die Eifersucht?“, so Selvi. Es kann sich um die Angst handeln, dass die hinzukommende Person zu viel Platz im Alltag einnimmt oder am eigenen Selbstwert liegen, dass man sich nicht mehr begehrenswert genug fühlt. 

Ob eine polyamore Lebensweise glücklicher macht als eine monogame, kann kein:e Therapeut:in und keine Wissenschaft beantworten. Der offene Umgang mit diesem Thema bietet jedoch die Möglichkeit, sich bewusster mit den eigenen Bedürfnissen zu befassen. 

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