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Freiwilligkeit und Pflichtgefühl: Das Ehrenamt

Laura Boemke ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin.

[Foto: privat]

12.03.2022 15:40 - Özgün Ozan Karabulut

Freiwilligkeit und Pflichtgefühl: Das Ehrenamt
Laura Boemke ist an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Politische Soziologie tätig. Die Doktorandin forscht unter anderem zur Soziologie des Sozialstaats, Engagement und Freiwilligenarbeit. Wir haben nachgefragt, welchen Stellenwert das Ehrenamt in unserer Gesellschaft hat und was am ehrenamtlichen Engagement kritisch gesehen werden kann.

ak[due]ll: Was versteht man unter einem Ehrenamt und was zeichnet es aus?

Laura Boemke: Das klassische Ehrenamt bildet sich im 19. Jahrhundert heraus. Es wird zu dieser Zeit vor allem vom Bürgertum ausgeübt und die ‚ehrenvollen Ämter‘ werden mehrheitlich von Männern bekleidet. Frauen üben damals eher soziales Engagement aus und betätigen sich karitativ. In den 60er Jahren kommt es zu einer Differenzierung und Demokratisierung des Ehrenamtes. Es gibt nun nicht mehr nur das klassische Ehrenamt, sondern sehr viel mehr Tätigkeiten, die dazu gezählt werden. Heutzutage wird daher eher vom bürgerschaftlichen Engagement gesprochen. In einer klassischen Definition würde man sagen, dass es sich um eine freiwillige, unentgeltliche und am Gemeinwohl orientierte Tätigkeit handelt. Die Kernmerkmale sind in gesellschaftspolitische Wandlungsprozesse eingebunden und nicht in Stein gemeißelt. Der Aspekt des Unentgeltlichen ist teilweise aufgelöst, es gibt inzwischen auch relativ hohe Aufwandsentschädigungen sowie Ehrenamts- oder Übungsleiter:innenpauschalen.

ak[due]ll: Warum engagieren sich Menschen ehrenamtlich, was ist ihre Motivation?

Boemke: Die Motivationen sind sehr vielfältig und komplex. Es gibt uneigennützige Beweggründe, anderen zu helfen und zu unterstützen. Manche wollen einfach eine sinnvolle Tätigkeit ausüben. Wichtig sind auch die Selbstwirksamkeit und die Teilhabe. Mit dem, was man tut, möchte man die Umwelt und Gesellschaft ändern oder ihr etwas Positives hinzufügen. Viele üben ein Engagement aus Freude aus, es gibt dabei auch religiöse Motive. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass sich die Motivationen im Laufe des Lebens ändern; es ist nicht statisch, sondern ein Prozess. Was in der Debatte um das Engagement nicht richtig auftaucht, ist, dass es viele Leute gibt, die in einer sozial vulnerablen Position sind. Wie beispielsweise Erwerbslose oder Menschen mit einer geringen Rente. Hier kommen die monetarisierten Formen des Engagements zur Geltung. Sie möchten sich einen kleinen Zuverdienst organisieren. Erwerbslose geben an, dass es ihrem Tag eine Struktur verleiht und sie dadurch der Isolation und Einsamkeit entfliehen können.

ak[due]ll: In welchen Bereichen üben Studierende typischerweise ein Ehrenamt aus?

SCHLAU - ein Ehrenamt neben dem Studium

In unserem Portrait erfahrt ihr, was Elli an ihrem Ehrenamt so mag und wie sie es mit der Uni vereinen kann.
Von Magdalena Kensy in Campus
 

Boemke: Die Datenlage dazu ist nicht so einfach. Da haben wir keine Unterteilung der Statusgruppe, es ist eher auf das Alter differenziert. In der Gruppe der 14-30-Jährigen fällt auf, dass sich diese Gruppe überdurchschnittlich engagiert. Besonders in den Bereichen Sport und Freizeit, Kultur und Kunst, oder auch im politischen Bereich. Dafür bietet das Studium eine gute Zeit, um hochschulpolitisch tätig zu werden. Auch außerhalb des Hochschulkontextes gibt es viele kleinere Projekte, bei denen sich Studierende durch die Flexibilität des Studiums einbringen können. Was die Aufgabenbereiche angeht, unterscheiden sich Studierende nicht so sehr von der Gesamtbevölkerung. Bei jungen Menschen ist die Tätigkeit meist kurzfristiger und nicht so konstant wie bei Älteren.

ak[due]ll: Welche Vorteile bringt ein Ehrenamt für Studierende mit sich, auch in Bezug auf den späteren Berufseinstieg?

Boemke: Junge Leute geben häufiger an, das Engagement als Lernort zu nutzen und um sich zu qualifizieren. Über das Engagement erhalten sie interessante Einblicke in Bereiche, die als Orientierungshilfe nach dem Studium dienen können. Das Engagement dient als Ort, um informelles Wissen jenseits der klassischen Bildungsinstitutionen wie der Universität zu bekommen. Es ist vorteilhaft für das Erlernen von Soft Skills sowie für den Erwerb von sozialem und kulturellem Kapital. Es dient als Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und sich Netzwerke zu erschließen. Das kann die Chancen steigern, in einen Beruf reinzukommen.

ak[due]ll: Inwiefern spielen die soziale Herkunft und die ökonomische Situation der Studierenden eine Rolle, ob und welches Ehrenamt sie ausüben?

Boemke: Es ist nicht für jede:n möglich, über das Engagement soziales Kapital aufzubauen. Nicht alle Studierenden haben die materiellen Ressourcen, um gleichermaßen von diesem Vitamin B zu profitieren. Aus der Engagementforschung wissen wir, dass das Engagement einen Klassen-Bias hat – nicht alle Klassen engagieren sich gleichermaßen. Das ist auch der Tradition des klassischen Ehrenamts geschuldet, das führt sich fort. Es ist aber auch ganz klar an der Bedeutung des Begriffs angelehnt: Es ist das ‚bürgerschaftliche‘ und nicht irgendein anderes Engagement. Wenn man in der Kneipe eine Nachtschicht einlegen muss, um sich das Studium zu finanzieren, hat man weniger zeitliche Ressourcen zur Verfügung, um ein Engagement auszuüben.

ak[due]ll: Angebote wie die Geflüchtetenhilfe oder die Tafel werden meist von Ehrenamtler:innen übernommen. Weshalb ist das kritisch zu betrachten?

Boemke: Die Engagementforschung ist sehr zurückhaltend mit Kritik. Das Ehrenamt ist wie ein Apfelkuchen: Jeder mag es. Doch natürlich gibt es auch kritische Punkte. In den letzten Jahrzehnten ist ein Strukturwandel des Sozialstaates zu beobachten. Bürger:innen werden vermehrt in die Pflicht genommen, um für sich und andere zu sorgen. Das Angebot an öffentlichen Leistungen wird ökonomisiert und geschröpft. In dieser Konstellation spielt das bürgerschaftliche Engagement eine immer größere Rolle und wird politisch auch verstärkt gefördert. Jetzt könnte man sagen, dass es nicht weiter schlimm oder es gut ist, dass das ehrenamtliche Engagement gefördert wird. Es wird aber immer dann zu einem Problem, wenn staatliche Kernaufgaben ‚verzivilgesellschaftlicht‘ werden. Dann wird es nicht mehr als gesichertes, festes und vor allem professionell erbrachtes Angebot bereitgestellt, sondern basiert vermehrt auf der Arbeit von Freiwilligen. Die Lebensmittelsicherheit von Bürger:innen sollte nicht von freiwilligen Tafeln abhängen. Wenn kommunale Bäder und Bibliotheken vom Schließen betroffen sind, sind es meist engagierte Bürger:innen, die die Institutionen vor der Schließung retten müssen. Da wird deutlich, dass das Engagement nicht ausnahmslos gut ist, sondern in die Bresche springt, wo der Staat wenig investiert. Das ist nicht als Kritik am Engagement gedacht. Sondern es geht darum, die Bedingungen zu kritisieren, unter denen Ehrenamtler:innen tätig sind.

SP-Interview _Bild_2.jpgJunge Menschen engagieren sich oft in Sportvereinen. [Foto: pixabay]

ak[due]ll: 2021 waren in Deutschland knapp 16 Millionen Menschen im Ehrenamt tätig. Was würde passieren, wenn sich niemand mehr engagiert?

Boemke: Eine präzise Antwort kann man auf die hypothetische Frage nicht geben. Sportvereine werden nahezu vollständig vom Ehrenamt getragen. Wir hätten dann weniger Spaß, wenn das Engagement wegfallen würde. Die Freiwillige Feuerwehr hat Probleme, Nachwuchs zu gewinnen. Sicherheitsfragen werden auf einmal relevant, wenn es keine Freiwillige Feuerwehr mehr geben würde. Wenn wir sehen, dass das Engagement zunehmend zentrale Angebote der Daseinsvorsorge übernimmt, dann können beim Wegfall wichtige Bereiche des Lebens nicht mehr bespielt werden. Wir haben uns diese Frage in unserer Forschung selbst gestellt und sie an Ehrenamtler:innen weitergegeben. Eine in einer Schule ehrenamtlich tätige Person sagte darauf: ‚Dann können wir den Laden dichtmachen.‘ Das ist das Dilemma des Engagements. Leute berichten teilweise von Überlastung und Überforderung, häufig bei Geflüchtetenarbeit. Sie nehmen einen stillen Zwang wahr, da zu bleiben, weil es Versäumnisse von staatlicher Stelle gab und Hilfe dringend benötigt wird. Sie fühlen eine innere Verpflichtung, niemanden im Stich zu lassen. Da ist ein großes Spannungsverhältnis zwischen der Freiwilligkeit und dem Pflichtgefühl. Es gibt aber auch politische Aktionen, die auf genau diesen Missstand hinweisen. So gab es vor etlichen Jahren die Gründung einer Freiwilligengewerkschaft, die unter dem Motto ‚Es ist uns keine Ehre‘ einen symbolischen Streik initiiert hat.

ak[due]ll: Wie hat sich die Situation des Ehrenamts während der Corona-Pandemie entwickelt?

Boemke: Das Engagement ist zum Erliegen gekommen, weil es durch die Beschränkungen nicht mehr möglich war. Es gab Versuche, das zu digitalisieren, was auch nur bedingt funktioniert. Denn das Engagement hat in den meisten Fällen damit zu tun, dass man im Kollektiv mit Menschen tätig ist und sich gemeinschaftlich engagiert. Als Soziologin war es für mich spannend zu beobachten, dass es einen kurzen Hype von Nahraumsolidarität gab. Wie die Einkaufshilfen für die alte Nachbarin, die über Nacht wie Pilze aus dem Boden schossen. Wie das Engagement in der Post-Coronazeit aussehen und sich entwickeln wird, weiß ich nicht. Das ist noch ungewiss.

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