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Hauptsache Abschottung

26.01.2017 09:05 - Redaktion



In den vergangenen Wochen lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylanträge von queeren Geflüchteten aus Tunesien ab. Das bedeutet für die Personen, dass sie zurück müssen – trotz der politisch prekären Lage für Menschen mit LGBT*IQ-Hintergrund. Auch die Europäische Union arbeitet weiterhin daran, sich von Schutzsuchenden abzuschotten: Bestehende Gesetze sollen durch noch restriktivere ersetzt werden und weitere Deals mit autokratischen Staaten geschlossen.

In den vergangenen Wochen gingen bei aus Tunesien geflüchteten Menschen, deren Hauptasylgrund die Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität ist, Ablehnungsbescheide ein. Das Queer Refugees Network Leipzig, das die Geflüchteten betreute, ist ein neu gegründetes Projekt in Leipzig zur Unterstützung von Geflüchteten mit queerem Hintergrund. „Queer“ dient als Oberbegriff für Menschen, die sich in irgendeiner Form nicht mit dem binären, heterosexuellen Geschlechtermodell identifizieren. Entstanden ist das Netzwerk aus dem Missstand der Überbelastung von Sozialarbeitenden, die teilweise bis zu 300 Geflüchtete betreuen müssen. Dabei kommt individuelle Hilfestellung oft zu kurz und Geflüchtete wissen nicht genau, wie sie ihr Problem korrekt artikulieren müssen, damit ihre Asylanträge bewilligt werden.

Das Queer Refugees Network veröffentlichte am 16. Januar eine Pressemitteilung, in der auf die Ablehnungsbescheide, die aus einer angenommenen Unkenntnis des Bundesamtes über die Situation für queere Menschen in Tunesien resultiere, aufmerksam gemacht wurde. In der Pressemitteilung erklärt das Netzwerk, dass das BAMF die Ablehnungsbescheide damit begründe, dass die Menschen diskret mit der eigenen sexuellen Orientierung umgehen können, also die eigenen sexuellen Vorlieben niemals öffentlich und/oder gegenüber Familienangehörigen artikulieren. Obwohl „Diskretion kein sicheres Mittel gegen Verfolgung darstellt“, erläutert das Netzwerk, das sich dabei auf ein Gerichtsurteil des Verfassungsgerichtshofes beruft.

Fälle von strafrechtlicher Verfolgung in Tunesien seien dem BAMF angeblich nicht bekannt – Amnesty International wies jedoch bereits im September 2015 auf die Verurteilung von sechs Menschen zu drei Jahren Haft durch tunesische Behörden wegen ihrer homosexuellen Orientierung hin. In Tunesien sei Homosexualität laut dem Netzwerk außerdem gesellschaftlich geächtet, LGBT*IQ-Menschen seien mit Androhungen und Durchführungen von ärztlicher Folter (wie Analuntersuchungen) konfrontiert, ebenso wie mit physischer Gewalt durch die tunesische Polizei oder Familienangehörige. Das BAMF sage dazu, dass diese Art von gewaltvoller Diskriminierung auf ein Fehlverhalten von Einzelpersonen zurückzuführen sei und „sich nicht auf die gesamten Sicherheitsbehörden des tunesischen Staates übertragen [lasse]“.

Geht‘s überhaupt richtig?

Die Geflüchteten müssen im Anerkennungsprozess mehrere nervenzerreißende Hürden überwinden. Für Menschen der LGBT*IQ-Community häufen sich weitere Problematiken an. Falls sie es bis nach Deutschland geschafft haben, beginnen diese in den Unterkünften und enden oft nicht mit einem entlastenden Gerichtsurteil, das ihren Schutzstatus bestätigt. Queer-refugees.de, eine Internetplattform für Informationen rund um das Thema, schätzt die Prozentzahl der queeren Geflüchteten auf etwa fünf Prozent. Wenn die eigene Geschlechtsidentität weder männlich noch weiblich ist oder gerade ein Transformationsprozess angestoßen wurde, stellt sich die Frage, welche Waschräume benutzt werden sollten. Hinzu kommt die Angst vor physischer oder verbaler Gewalt in den Unterkünften durch homo- und trans*feindliche Mitmenschen oder das Security-Personal. Geflüchteten wird von queer-refugees.de geraten, ein „Coming Out” vorerst nicht vorzunehmen. Falls aber die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität relevant wird, wenn sich notgedrungen Dolmetscher*innen offenbart werden muss, kann erneut Queerfeindlichkeit zu negativen Auswirkungen auf das Asylverfahren führen. Dasselbe gilt für jede Person, die am Asylprozess beteiligt ist: Sozialarbeiter*innen, Richter*innen oder etwa Anwält*innen. Deswegen fordert queer-refugees.de die Bereitstellung von expliziten Ansprechpersonen in den Unterkünften, die der Schweigepflicht unterliegen oder zumindest mehrsprachige Plakate mit Rufnummern, damit sich die Geflüchteten in einem geschützten Rahmen äußern können.

Teils ist die eigene Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung auch mit traumatischen Erlebnissen verbunden. Manche schaffen es bei der entscheidenden zweiten Anhörung nicht, diese darzulegen. Oft wird ihnen deswegen explizite Verfolgung abgesprochen. Außerdem sollten laut der Plattform Dolmetscher*innen und Security-Personal auf homophobe und trans*feindliche Äußerungen getestet werden, damit auch sie als Vertrauenspersonen oder zumindest vorurteilsfrei agieren können. Laut queer-refugees.de solle auch ausreichende Beleuchtung und eventuell Kameraüberwachung auf dem Weg zu den Sanitärbereichen garantiert sein so wie Notrufsysteme als Teil eines Gewaltschutzkonzepts installiert werden. Der Hauptmissstand für queere Geflüchtete sei ein gesellschaftliches Problem. Auch wenn in Deutschland die Auslegung der eigenen (Geschlechts-)Identität nicht strafrechtlich verfolgt wird, wie beispielsweise in Tunesien, sind am Asylverfahren viele Menschen beteiligt, die auf den Anerkennungsprozess negativ wirken können. Auch nach der Anerkennung haben queere Menschen teilweise Probleme am Arbeitsmarkt – dies trifft jedoch nicht bloß Geflüchtete.

Es so schwer wie möglich machen – Dublin IV

Als wären queerfeindliche Entscheidungen nicht genug, will die Europäische Union mit der Dublin-Verordnung die Aufnahme von Geflüchteten weiter massiv einschränken. Bislang sah die noch geltende Dublin-III-Verordnung vor, dass Geflüchtete in dem europäischen Land ihren Asylantrag stellen müssen, das sie als erstes betreten haben. Doch auch in den europäischen Breitengraden gibt es viele Abstufungen, wie sicher ein Land für queere Geflüchtete ist. Die ILGA Europe Rainbow Map analysiert die rechtliche und humanitäre Situation für queere Menschen in Europa: Italien und Griechenland, die aufgrund der geographischen Lage an den EU-Außengrenzen hohe Zahlen an Geflüchteten verschreiben, können nur 25 Prozent der Kriterien (wie das der rechtlichen Lage, das Angebot an Beratungsstellen sowie die gesellschaftliche Stimmung bezüglich queeren Menschen) erfüllen.

Bisher gab es zumindest noch Handlungsspielräume, von Zwangsrückführungen abgesehen: EU-Mitgliedstaaten konnten bei humanitären Notlagen die Zuständigkeiten für Asylverfahren übernehmen und von Abschiebungen in Ersteinreiseländer absehen. In einige Staaten, wie beispielsweise Ungarn, schickt die Bundesrepublik aufgrund des politischen Klimas gewöhnlicherweise keine Menschen zurück und verzichtet auf die Anwendung von Dublin III. Aber auch hier entscheidet der Einzelfall und diese Praxis könnte sich in Zukunft ändern.



Handlungsspielräume sollen abgeschafft werden

Bereits im Mai vergangenen Jahres hatte die Europäische Kommission einen Entwurf vorgelegt, der die Ermessensspielräume – also darüber, ob ein EU-Land in ein anderes abschiebt – einschränken soll. Der Vorschlag sieht zudem vor, Abschiebungen in die Ersteinreiseländer zu vereinfachen. Während in der Dublin-III-Verordnung noch verbindliche Fristen dafür vorgesehen waren, will die EU diese nun abschaffen. Bislang musste der Mitgliedstaat auch Asylanträge von Geflüchteten bearbeiten, die über einen anderen Mitgliedstaat oder einen sogenannten „sicheren Drittstaat” eingereist sind, wenn die Abschiebefrist von in der Regel sechs Monaten überschritten wurde. Zuständigkeitswechsel nach Fristablauf sollen in der Reform gestrichen werden.

Bisher hat das BAMF bei besonders schutzbedürftigen Geflüchteten die Möglichkeit, von einer Abschiebung abzusehen und das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen. Einzig und allein bei bestehenden Familienbindungen soll auch künftig eine Ausnahme gemacht werden. Traumatisierten Geflüchteten sollen nach der geplanten Reform inhumane Bedingungen in den Ersteinreiseländern aber zugemutet werden können. Auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete sollen mit der Dublin-IV-Verordnung abgeschoben werden können. Humanitäre Handlungsspielräume sollen in der Reform gestrichen werden.

Damit Geflüchtete das rechtlich für sie zuständige Land nicht verlassen, sieht der Entwurf der Europäischen Kommission vor, Sanktionen zu erheben. Wenn sich Schutzsuchende der Einschränkung der Bewegungsfreiheit widersetzen, sollen soziale Leistungen gestrichen werden. Das Recht auf den freien Willen, und damit auch selbstgewählter Mobilität wird durch die Reform also noch weiter beschnitten. Nutznießer der Dublin Verordnung sind seit Inkrafttreten Länder wie Deutschland, die keine EU-Außengrenze besitzen. Da sie eine Einreise für EU-Ausländer*innen über den Luftweg nur mit Pass- und Visapapieren erlauben, schafft die Verordnung das Recht auf das Stellen eines Asylantrages, dem sich diese Länder zuvor auf der Genfer Flüchtlingskonvention eigentlich verpflichtet hatten, faktisch ab.

Härtere Abschottungspraxis

Mit der geplanten Reform der Dublin-Verordnung soll die bereits jetzt praktizierte Abschiebepolitik intensiviert werden. Die Europäische Kommission hält auch Zwangsausweisungen nach Griechenland wieder für denkbar. Seit 2011 durften Staaten keine Geflüchteten mehr in das ohnehin von der Wirtschaftskrise und der Austeritätspolitik gebeutelte Land abschieben. Wegen der Überforderung Griechenlands verbot der Europäische Menschengerichtshof Abschiebungen in das Mittelmeerland. Ab dem 15. März möchte das Bundesinnenministerium Geflüchtete wieder nach Griechenland abschieben – obwohl derzeit Zehntausende bei Minustemperaturen in dünnen, teilweise für den Winter untauglichen Zelten ausharren müssen. „Während tausende Schutzsuchende ungeschützt der klirrenden Kälte ausgesetzt sind und Kältetote befürchtet werden müssen, reden die politisch Verantwortlichen die Situation in Griechenland auf zynische Weise schön“, urteilt die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl in einer Pressemitteilung Anfang des Jahres.

Auch außerhalb ihrer Grenzen schmiedete die Europäische Union abschottungspolitische Allianzen, von denen das, trotz eingeschränkter Pressefreiheit und dem wieder aufflammenden Kurd*innenkonflikt, abgeschlossene Abkommen mit der Türkei nur ein Beispiel ist. Wie das Politmagazin Monitor recherchierte, plane die Europäische Union auf Vorschlag der Kommission Abkommen mit einigen ostafrikanischen Ländern, darunter Eritrea und der Sudan. Während in Eritrea eine brutale Militärdiktatur herrscht, wird der sudanesische Präsident Umar al-Baschir vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Völkermordvorwürfen gesucht. Besonders die europäische Einschätzung zu Eritrea verwundert: So haben eritreische Geflüchtete aufgrund der Bewertung der politischen Lage in dem afrikanischen Land durch die Bundesrepublik eine bislang von den Behörden attestierte „gute Bleibeperspektive” in Deutschland.

Hinzu kommt die sich immer erweiternde Liste angeblich sicherer Herkunftsländer, wozu seit Ende vergangenen Jahres auch Afghanistan zählen soll (). Tunesien, Marokko und Algerien reihen sich in die Riege der angeblich sicheren Herkunftsländer ein. Die realpolitischen Handlungen der Europäischen Union und der Bundesrepublik zeigen deutlich: Es geht viel weniger um die Wahrung der Grund- und Menschenrechte, sondern um den Ausbau der europäischen Abschottungspolitik. [fro/lys]

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