LOKALES
„Stell dir vor, du bist eine Qualle. Es bewegt sich alles, du spürst alles“, hieß es im Workshop zur künstlerisch-wissenschaftlichen Performancewoche WE_COSMOS, die vom 3. bis zum 11. September in Altenessen stattfand. Unter der Leitung von Choreograf und Performer Fabian Chyle und dem Geophysiker und Multimedia-Künstler Michael Lazar wurden Künstler:innen und Anwohner:innen dazu eingeladen, den Stadtraum neu zu entdecken. Unsere Redakteurin hat teilgenommen.
Am letzten Tag des Projektes führt es mich in den Garten des KD11/13 Zentrum für Kooperation und Inklusion in Essen-Altenessen. Projektassistentin Anna Theodor gibt mir eine Einführung, bevor es hinaus in die Altenessener Innenstadt geht: „Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, was uns im urbanen Raum umgibt, wir aber im Alltag nicht wahrnehmen.“ Sie spricht von Erdvibrationen. Die werden vom Geophysiker Michael Lazar gemessen, visualisiert und in Soundinstallationen umgewandelt. „Wir beeinflussen die Erdvibrationen und umgekehrt beeinflussen sie auch uns. Es geht darum, wie man den urbanen Raum neu denken oder neugestalten kann“, erklärt Theodor. Sie wollen eine Stadt der Zukunft, in der der urbane Raum mehr zum Raum von Kultur und Kunst wird.
„Es geht los“, trommelt Chyle die Workshopteilnehmer:innen zusammen. „Move the City“ heißt der Workshop und genau darum geht es: sich durch die Altenessener Innenstadt zu bewegen. Beim ersten Stopp geht es um das sogenannte „Sensing“, also das Spüren von Klang, Geräuschen oder Vibrationen. „Du kannst die Augen zumachen und den Wind um die Nase spüren. Nimm den Rhythmus von der Musik auf. Beweg Becken, Oberschenkel, Waden und Füße. Stell dir vor, du bist eine Qualle. Es bewegt sich alles, du spürst alles. Den Hinterkopf, den kleinen Zeh, deinen Handrücken und die Handinnenflächen“, leitet uns eine Performerin an. Alle Teilnehmer:innen machen ungehemmt mit, legen sich auf den Boden oder bewegen wild all ihre Körperteile.
„Wir spielen mit der Norm“
Es geht weiter Richtung Marktplatz. Wir sollen jetzt die Umgebung wahrnehmen und mit einer Pose in uns aufnehmen – sei es eine Wand, eine Laterne oder ein anderer Mensch. Noch starren die Leute im Vorbeigehen nur oder fragen mich, ob wir eine Gymnastik-Gruppe sind. Dann kommt es zum krönenden Abschluss des Workshops. Wir stehen auf einem Platz und sollen alles, was wir auf dem Weg dorthin gemacht haben, zusammenbringen. Eine wilde Performance beginnt. Die Teilnehmer:innen räkeln sich und verschmelzen ineinander. Ein Fußgänger wird dazu animiert mitzutanzen, ein anderer ruft: „Was habt ihr denn für Pillen genommen?“ und Autos hupen.
Als es vorbei ist, wirken die Teilnehmer:innen ausgelassen und zufrieden. „Es geht darum, sich außerhalb vom Tanz- oder Proberaum zu bewegen. Wir wollen mit der Norm spielen“, erklärt mir Fabian Chyle beim Zurücklaufen. „Es war total erfolgreich, auch wenn man gesehen hat, dass wir nicht dahin gehören”, so Chyle. Das Konzept sei angelehnt an Joseph Beuys: „Wir leben den Außenraum, damit das Ganze eine soziale Plastik wird. Das bedeutet, dass es nicht nur darum geht, was du produzierst, sondern darum, dass du etwas schaffst, womit Leute eine Erfahrung machen“, erzählt er.
Altenessen sei dafür der perfekte Ort gewesen. Er bezeichnet den Stadtteil als fast kleinstädtisch, abgesondert vom Rest der Stadt und trotzdem sehr global. „Oft ordnen die Leute schnell in zwei Kategorien ein: Das ist Kunst oder du bist verrückt. Dazwischen gibt es wenig. Und das ist hier anders“, sagt Chyle. Auch ich musste mein Gefühl von Scham abschütteln. Doch obwohl ich mir komisch vorkam, weiß ich genau, dass ich noch nie so intensiv auf die Menschen und meine Umgebung in der Stadt geachtet habe.
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