LOKALES
Wohl kaum ein Tier hat so einen Image-Wandel erlitten wie die Taube. Vom ersten Haustier der Höhlenbewohner:innen über das Liebessymbol der Turteltaube, gelten sie heute oft als „Ratten der Lüfte“. Warum das nur ein ästhetisches und kein medizinisches Problem für viele Stadtbewohner:innen darstellt, erklärt Veterinärmediziner Uwe Schott aus Essen-Huttrop.
Laut Schätzungen leben 500 Millionen Tauben weltweit in Stadtgebieten. Diese Stadttauben sind Nachkommen entflogener und verwilderter Haus- und Brieftauben. Suchten sie einst auf Feldern und an Randgebieten nach Nahrung, bot die zunehmende Verstädterung neue Möglichkeiten. Ein konstantes Nahrungsangebot, das milde Stadtklima und ausreichend Nistplätze an Gebäudefassaden führten dazu, dass Stadttauben ganzjährig brüten. Die enorme Vermehrung schadet in erster Linie den Tauben: „Stress nimmt zu, Krankheiten und Parasiten treten häufiger auf, die Jungensterblichkeit steigt bis auf 90 Prozent im ersten Lebensjahr“, heißt es vom Naturschutzbund Deutschland (NABU).
Krankheiten werden jedoch nur von Tier zu Tier übertragen, nicht auf den Menschen. Der allgemeine Konsens, Tauben seien Krankheitsüberträger und gefährlich, sei unbegründet, so Tierarzt Uwe Schott. Die Wahrscheinlichkeit, sich bei einer Taube anzustecken, sei genauso hoch wie bei anderen Vogelarten oder Haustieren wie Hund und Katze. „Wenn zu viel Kot an einer Stelle ist, können sich bestimmte Bakterien eher vermehren, vor allem durch die Luft“, so Schott. Für den Menschen spiele das, genau wie Milben und andere Erreger, keine Rolle. Bei Tauben selber komme es schnell zu Übertragungen. „Sie sitzen häufig sehr eng zusammen an geschützten Plätzen und füttern sich gegenseitig“, erklärt Schott.
Die unberechtigte Angst vor der „Vogelseuche“
Die bakterielle „Tierseuche“ Ornithose, die vor allem von Vögeln auf Menschen übertragen wird, ist laut Robert-Koch-Institut extrem rückläufig und nicht mehr auf die Stadttaube als Auslöser der Erkrankung zurückzuführen. 2019 wurden elf Fälle von Ornithose in Deutschland bekannt, davon hatten sechs Patient:innen Kontakt zu Vögeln aus privaten Vogelzuchten mit Papageien, Sittichen oder Tauben.
„Das Problem mit der ‚Vogelkrankheit‘ ist vergleichbar mit dem der Toxoplasmose von Katzen“, führt Schott an. Toxoplasmose sind Parasiten, die von der Katze auf den Menschen übertragen werden können. Eine weitverbreitete Angst sei die Übertragung auf Schwangere und ein gesundheitlicher Schaden des Kindes. „Das sind Krankheiten, die ab und zu mal da waren und sich dann im Gedächtnis festsetzen. Ich halte das für eine unbegründete Furcht“, so Schott.
Zu Unrecht erhielten Stadttauben den Namen „Ratten der Lüfte“, erklärt der Veterinärmediziner: „Wann haben das letzte Mal Ratten Krankheiten auf den Menschen übertragen? Da wird immer die Pest angeführt, im 15. Jahrhundert.“ Es seien Geschichten über Krankheiten, so Schott, die sich einfach in den Köpfen halten. Laut dem Magazin des Tierschutzvereins Gross-Essen wird der Titel „rats with wings“ auf eine Anti-Tauben-Kampagne der 60er Jahre aus den USA zurückgeführt. Die Kampagne schürte Ängste über Tauben als Krankheitserreger, zum Vorteil von Firmen, die von der Schädlingsbekämpfung leben.
Finger weg von „Abwehrmaßnahmen“
Ob Abschuss, Käfigfang mit Tötung, Vergiften mit Blausäure oder Schlafmitteln, „Tauben-Pille“, Ultraschall-Systeme oder mechanische Mittel wie Gitter, Spikes und Nägel – Maßnahmen zur Taubendezimierung sind meist wenig effektiv und aus Tierschutzsicht bedenklich, so der NABU. In die Tierarztpraxis Schott werden ab und zu kranke und verletzte Stadttauben gebracht. Verletzungen durch spitze Vorrichtungen könnten dabei meist noch behandelt werden. Noch schlimmer seien Glasfronten vieler moderner Gebäude. „Vögel können das nicht einschätzen. Sie fliegen einfach vor die Glaswand. Und wenn ein Flügel gebrochen und sie flugunfähig sind, ist es meistens auch das Ende einer Taube“, erzählt Schott.
Ein weiterer Grund, weshalb Tauben in die Praxis gebracht werden, sei Abmagerung. „Meist, wenn sie irgendwo sitzen und nicht mehr wegfliegen können“, so Schott. Fütterungsverbote in Städten werden gerade zu Corona-Zeiten, in denen die Innenstädte wie leergefegt wirken, kontrovers diskutiert. Denn Tauben sind durch die jahrhundertelange Bindung an den Menschen und seine Städte auf ihn angewiesen. Sie gehören zur Artenvielfalt unserer Siedlungen.
Gesunder Taubenbestand
Eine kontrollierte Fütterung in Taubenschlägen soll dafür sorgen, dass ein gesunder Taubenbestand erreicht wird. Taubenhäuser gibt es in Essen bereits in der Innenstadt und in Steele. Die Initiative „Stadttauben Essen-Borbeck" befindet sich in der Vereinsgründungsphase. Zur Geburtenkontrolle werden dort Bruteier durch Ei-Attrappen ausgetauscht. Artgerechtes Futter, sauberes Wasser und eine medizinische Versorgung halten die Tiere gesund. Da sich die Tauben zu 80 Prozent am Schlag aufhalten, kann dort der Kot gesammelt und entsorgt werden. Allein die Projekte in Essen sparen der Stadt jährlich mehr als drei Tonnen Taubenkot, so der Tierschutzverein.
Trotzdem fehle ein Gesamtkonzept und den Ehrenamtlichen Helfer:innen oft die nötigen Mittel und Spenden. Auch mehr Öffentlichkeitsarbeit soll Verständnis für Tauben schaffen. „Wir unterteilen gerne in gut und böse oder gefährlich und nicht gefährlich. Das halte ich für absolut falsch, denn im Grunde genommen ist nichts in der Natur schädlich”, so Schott.