Studentische Monatszeitung für Duisburg, Essen und das Ruhrgebiet

LOKALES

Streik an den Uniklinika NRW: The Aftermath

Fast 12 Wochen lang lief der Betrieb am UK Essen auf heruntergefahrener Stufe. [Foto: Sophie Schädel]
18.09.2022 19:42 - Helena Wagner

12 Wochen wurde zwischen Mai und Juli an den Uniklinika in Nordrhein-Westfalen für einen Entlastungsvertrag gestreikt. Der erkämpfte Tarifvertrag tritt im Januar 2023 in Kraft – doch was ändert sich? Inga Hinz und Milan Heinold machen am UK Essen die Ausbildung zur Pflegefachkraft und haben uns im Interview erzählt, warum sie gestreikt haben, was sie währenddessen erlebt haben, und was sie sich für die Zukunft ihres Berufs erhoffen. 

ak[due]ll: Wie kam es zum Streik?

Inga Hinz: Wir wollten den Uniklinika durch ein 100-Tage Ultimatum die Chance geben, auf unsere Forderungen zuzukommen und ohne Streik zu agieren, darauf wurde jedoch nicht eingegangen. Das Ultimatum wurde durch eine Kampagne von ver.di unterstützt. Ver.di hat in Zusammenarbeit mit den Streikenden daraufhin den Streik geplant und nach dem 100-Tage-Ultimatum durchgeführt.

ak[due]ll: Wofür wurde gestreikt? Was wurde gefordert?

Inga: Es wurde Entlastung, das heißt verbindliche Regelungen für mehr Personal und eine menschenwürdige Versorgung der Patient:innen für alle Bereiche im Krankenhaus gefordert. Nicht ausschließlich Entlastung für die Pflege, sondern für das gesamte nichtärztliche Personal. Die Auszubildenden und dual Studierenden haben unter anderem eine bessere Vorbereitung auf den Beruf und einen Belastungsausgleich gefordert. Wenn beispielsweise Praxisanleitungen ausgefallen sind, mussten wir die Konsequenzen dafür tragen, dass zu wenig Personal für unsere Ausbildung zur Verfügung stand. Wir haben gefordert, dass diese Konsequenzen nicht durch die Auszubildenden, sondern durch den Arbeitgeber getragen werden. Am Beispiel der Praxisanleitung: Wenn diese ausfällt und nicht innerhalb einer Woche nachgeholt wird, bekommen die Azubis einen Selbstlerntag. Im Jahr sind es maximal drei Tage extra. Denn: Wenn ich nicht angeleitet werde, muss ich es mir selbst beibringen und dafür brauche ich einen Tag frei vom Dienst.

ak[due]ll: Warum streiken junge Auszubildende?

Redakteur:in gesucht!

Wir suchen eine:n neue:n Redakteur:in! Bewerbt euch bei uns und werdet ab Oktober Teil unseres Teams.
Von Redaktion in Campus
 

Inga: Wir haben ein großes Interesse daran, den Job für die Zukunft attraktiver zu machen. Wir wissen, dass es auf lange Sicht weder für die Arbeitenden noch für die Auszubildenden so weitergehen kann. Wenn ich als Auszubildende mitstreike, streike ich auch für mich als Examinierte mit. Unsere Ausbildung wird es kaum noch betreffen, da der erkämpfte Vertrag erst ab 2023 greift und wir unsere Ausbildung im Oktober abschließen werden.

Milan Heinold: Aber alleine, wenn ich überlege, dass ich in der Ausbildung teilweise eine Vollzeitkraft ersetzen musste. Das möchte ich jemandem, der sich früh in der Ausbildung befindet und den psychischen Belastungen eventuell nicht standhalten kann, ersparen. Manche Azubis stehen durch die Überbelastung mit einem Bein im Knast und das kann ich nicht unterstützen.

ak[due]ll: Habt ihr überlegt, die Ausbildung abzubrechen?

Milan: Ich habe wegen der Umstände auf jeden Fall darüber nachgedacht, die Ausbildung abzubrechen. In unserem Jahrgang haben von 90 Azubis bereits über die Hälfte aufgrund der schlechten Erfahrungen noch im ersten Lehrjahr aufgehört. Durch die fehlende Anleitung werden teilweise Menschenleben gefährdet, diese Verantwortung wollte ich nicht tragen. Doch wenn man von den Missständen absieht, ist es einfach ein Beruf, der mich erfüllt. Zu sehen, dass durch die eigene Hilfe Leben verbessert werden und Menschen genesen oder ihnen ein schöner Lebensabschluss beschert wird, ist einfach eine tolle Erfahrung.

ak[due]ll: Welche Auswirkungen hatte der Streik auf den Krankenhausbetrieb? Gab es viel Unverständnis für den Streik aus der Öffentlichkeit?

Milan: Wir wollten nie, dass die Patienten darunter leiden. Alle Notfälle wurden versorgt, der Krankenhausbetrieb ist auf heruntergefahrener Stufe weitergelaufen. OPs, die verschoben werden konnten, da das Leben der Patienten nicht in Gefahr war, beispielsweise bei Sportverletzungen, wurden auf einen anderen Termin verschoben. Oft war die Rede von einem „Pflegestreik“, worüber wir uns im Kollektiv auch sehr geärgert haben, denn: Es ist keine Pflegebewegung, sondern eine Krankenhausbewegung. Es geht um alle, die am Krankenhaus arbeiten, denn Krankenhaus ist Teamarbeit. Die Unterstellung aus der Öffentlichkeit ‘wegen eures Streiks sterben Menschen’ wussten wir immer klar zurückzuweisen, denn das entsprach einfach nicht der Wahrheit. Da wurden wir auch nicht müde, immer wieder aufzuklären.

Inga: Ein krasses Erlebnis war, als beim Sammeln von Unterschriften in der Essener Innenstadt eine Frau ihre Unterschrift nicht teilen wollte mit der Begründung: ‘Zu meiner Zeit in der Pflege musste ich durch die Sachen auch allein durch.’ Diese Argumentation konnten wir überhaupt nicht nachvollziehen, denn gerade sie als ehemalige Pflegekraft müsste Verständnis für unsere Forderungen haben.

concern-gdbdd98c59_1920.jpgDie Überlastung des nichtärztlichen Personals wirkt sich direkt auf den Krankenhausbetrieb aus. [Symbolfoto: pixabay]

ak[due]ll: Wie haben andere Mitarbeiter:innen im Krankenhaus auf den Streik reagiert?

Inga: Die Ärzt:innen haben geteilt auf den Streik reagiert. Manche hatten komplettes Verständnis dafür, dass das nichtärztliche Personal streikt, weil sie selbst die Missstände jeden Tag sehen und erleben. Andere wiederum haben sich beschwert, dass geplante OPs nicht gefahren werden konnten, weil das Klinikum dadurch Geld verloren hat. Wir hatten das Gefühl, als wäre der Unmut bei manchen Ärzt:innen eher eine Drucksache, das Geld zu verdienen, anstatt dass sie wirklich davon überzeugt waren, dass wir unberechtigterweise streiken.

Milan: Es gab auch Pflegekräfte, die sich über den Streik beschwert haben, mit der Begründung: „Der Streik bringt sowieso nichts und verschlimmert unsere Situation, sodass noch mehr Kräfte den Job verlassen“. Dazu muss man sagen, dass der Notdienst, der in den fast 12 Streikwochen gefahren wurde, auch ein anstrengender Dienst war. Es war natürlich für alle anstrengend, doch für die Leute, die dauerhaft im Notdienst arbeiten mussten, obwohl sie nicht mitgestreikt haben, war es verständlicherweise nicht angenehm.

ak[due]ll: Der Streik wurde von seitens der Arbeitgeber vor Gericht angeklagt. Wie habt ihr als Streikende auf die Klage reagiert?

Milan: Als die Klage kam, waren alle Streikenden geschockt. Die Arbeitgeber:innen saßen ab dem 17. Streiktag mit uns an einem Tisch und haben mit uns verhandelt, aber die Verhandlungen konnte man nicht ernstnehmen. Beispielsweise haben wir als Azubis 25 Prozent Praxisanleitung gefordert, gesetzlich vorgeschrieben sind mindestens 10 Prozent. Das Angebot von der Gegenseite war sehr ernüchternd. Unserer Meinung nach war die Gegenseite alles andere als verhandlungsbereit, sondern man hat einfach gehofft, dass wir irgendwann aufhören zu streiken. Doch diese Situationen haben den Streik nur noch mehr angefeuert. Der Vorwurf in der folgenden Klage war Patientengefährdung. Das Gericht hat jedoch entschieden, dass keine Gefährdung vorliegt.

Inga: Lächerlich war dabei, dass die Notfallversorgung, die vor Gericht angeklagt wurde, in der Notdienstvereinbarung vorher von der nun klagenden Gegenseite abgesegnet wurde. Die Klage gegen ebendiese Notdienstvereinbarung kam jedoch erst am 41. Tag des Streiks. Daraus lässt sich schließen, dass hinter der Klage nicht das Wohl der Patienten steckte, sondern der Versuch, uns ruhigzustellen und einzuschüchtern. 141 Tage nach der öffentlichen Ankündigung des Streiks zu denken, es sei plötzlich doch illegal zu streiken, ist lächerlich. Als wir erfahren haben, dass wir die Klage gewonnen haben, hat uns das in unserem Recht auf den Streik noch mehr bestärkt, das war eine tolle Nachricht.

ak[due]ll: Würdet ihr den Streik als Erfolg verbuchen? Was ist das Ergebnis?

Milan: Im Nachhinein würde ich den Streik als eine der schönsten Zeiten in der Ausbildung beschreiben. Natürlich war das alles anstrengend, doch man wurde als Kolleg:innen zusammengeschweißt und politisch viel aktiver. Dieses Gefühl, für seine Rechte einzustehen und damit Erfolg zu haben, ist ein extrem gutes. Auch die demokratische Verhandlung und der Fakt, dass wir auch selbst in den Verhandlungen mitwirken durften, waren tolle Erfahrungen.

Inga: Auf das Ergebnis des Streiks können wir stolz sein, immerhin haben wir Geschichte geschrieben. Die Tarifvertrag-Entlastung ist ein Anfang, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Es ist gut, dass wir den Vertrag in etwa vier Jahren wieder bestreiken können. Ein Gesundheitssystem kann man nicht mit einem Streik von 12 Wochen revolutionieren. 

Milan: Die Examinierten sind gespalten, was die Zufriedenheit mit dem Vertrag angeht. Es wurden verschiedene Modelle für die verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus angefertigt und einige sind nicht zufrieden mit dem Modell ihrer Berufsgruppe. In der Praxis wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen, wie der Vertrag funktioniert. Ab dem 01. Januar 2023 wird sich etwas ändern, aber wir können nicht abschätzen, wie sich der Vertrag in der Praxis greift, denn momentan sind wir noch immer im alten Modell. Ändern wird sich auf jeden Fall etwas.

Inga: Schön zu sehen ist, dass der Streik viel losgetreten hat. In Frankfurt wurde auch ein Streik zum TVE begonnen. Es ist schön zu sehen, dass nicht nur in NRW der Streik seine Bahnen zieht, sondern auch andere Bundesländer und Städte in Deutschland auf den Zug aufspringen und etwas im Beruf verändern wollen. Im Gesundheitssystem gibt es so viele Problemstellen, dass es wichtig ist, irgendwo mal anzufangen. 

MilanWir wollen einen Beruf haben, in dem man guten Gewissens arbeiten kann und der wieder so viel Spaß macht, wie er Spaß machen sollte.  

Ich will kein Kind – na und?

Der Film „Me Time“ von Ayla Yildiz behandelt die Tabu-Themen Sterilisation, Regretting Motherhood und kinderfrei zu sein.
 

Siehst du die Mauern, die du mit deiner Sprache baust?

Bock auf Lesen, aber du weißt nicht was? Hier gibt’s den Schmöker-Tipp des Monats! „Sprache und Sein” von Kübra Gümüşay.
 

Wenn die neue Heimat plötzlich Krieg führt - Über Joseph, Moskau und seinen unterbrochenen Freiwilligendienst

Joseph macht einen Freiwilligendienst in Moskau, als Russland am 24. Februar die Ukraine angreift. Wie er die Zeit erlebt hat und warum er nicht sofort zurückwollte.
 
Konversation wird geladen