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LOKALES

„Essen Packt An“ mietet Hotel für Obdachlose

Während des Winters ist es lebensgefährlich, auf den Straßen zu schlafen.
[Foto: Sophie Schädel]

26.03.2021 14:40 - Erik Körner

Die Wohlfahrtsinitiative „Essen Packt An“ mietet notgedrungen ein Hotel an, um Obdachlosen eine sichere Unterkunft zu gewähren. Zwar bietet die Stadt Essen eigene Notunterkünfte an, doch diese sind mit Hürden und Ängsten für Obdachlose verbunden.

Im Februar brach eine Kältewelle über Essen hinein. Während sich manche am Schnee erfreuten und sogar via Ski zur Arbeit fahren, waren die Minustemperaturen für Essens Obdachlose lebensbedrohlich.

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„Da wir schon vorher von einem harschen Winter gehört haben, haben wir uns gefragt, was wir tun können“, so Markus Pajonk, der ehrenamtlich für die Wohlfahrtsinitiative „Essen Packt An“ arbeitet. „Als wir aber gesehen haben, dass eine arktische Kälte kommt, wussten wir: Wir müssen alle Register ziehen. Deshalb haben wir kurzerhand entschlossen, ein Hotel anzumieten.“

Die Idee kam zur rechten Zeit. In der ersten Nacht, vom 6. auf den 7. Februar, peitschten Winde mit über 50 Stundenkilometer durch Essen. Dadurch konnten Obdachlose nicht das Notzelt des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Borbeck aufsuchen, weil es ab dieser Windgeschwindigkeit untersagt ist, darin zu schlafen. Schlagartig fehlten zehn Schlafplätze und zwei Notbetten. „Wir mussten zwar kurzfristig etwas umplanen, konnten dann aber auch diese Plätze bei uns in der Unterkunft anbieten“, merkt Pajonk an.

Ein Projekt, das Leben rettet

Nicht nur die Witterung war ausschlaggebend für das Projekt. „Durch Corona hat sich die Armut zugespitzt und mehr Menschen schlafen auf der Straße“, erklärt Pajonk. Zudem sei lange Zeit unklar gewesen, ob andere Hilfsangebote, wie das Notzelt des DRK, dieses Jahr möglich sein werden. Laut Pajonk habe es zweieinhalb zusätzliche Monate gedauert, bis ein coronakonformes Konzept vorlag. Insbesondere gemessen an erschwerten Umständen stellte sich das Projekt als Erfolg heraus. „Ich konnte richtig sehen, wie die Leute aufgeblüht sind, denen wir ein Hotelzimmer verschaffen konnten“, freut sich Pajonk.

Die finanziellen Mittel für die Hotelmiete stammen vom norwegischen Generalkonsulat in Essen, das im Dezember 2020 aufgelöst wurde. Das Geld aus der Auflösung wurde nicht zurück nach Norwegen transferiert, sondern kam der lokalen Wohlfahrt zugute. Zum Glück von „Essen Packt An“ blieben nach der neuntägigen Miete des Hotels Gelder übrig. Damit bringen sie derzeit weitere Menschen in Hotels unter, die dringend nach Wohnungen suchen, aber auf dem Essener Wohnungsmarkt nichts in ihrem Budget finden können – so etwa einen 66-jährigen mitsamt seinem Hund. „Der Mensch liegt 19 Jahre über dem Lebensdurchschnittsalter von Obdachlosen. Wäre ich auf der Straße, wäre ich also wahrscheinlich schon tot“, konstatiert der 50-jährige Ehrenamtler.

Hürden durch strenge Bürokratie

Auch die Stadt Essen bietet zahlreiche Notschlafstellen an, etwa an der Lichtstraße oder der Grimbergstraße. Dass dort nicht alle Obdachlosen unterkommen, ist unter anderem der Bürokratie geschuldet. Das beweist der Wintermodus, der jährlich am 1. Dezember beginnt. Die Notschlafstellen öffnen dann eine Stunde früher und stellen mehr Betten bereit. „Wenn aber schon vier Tage vorher der Winter einbricht und Obdachlose in die Notschlafstelle wollen, dann gibt es da keinen Platz mehr“, kritisiert Pajonk. Einen Back-Up-Plan gebe es nicht. Optimal fände der Ehrenamtler ein flexibles Modell, das sich an Temperaturen orientiert statt an Daten.

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Häufig bleiben Obdachlosen nur wenige Habseligkeiten.
[Foto: pixabay]

 

Ein solches Modell müsste jedoch die Stadtverwaltung absegnen. Auch sie frustriert Pajonk: „Wir haben zum Beispiel nachgefragt, ob man nicht Impfungen vorziehen könne“, erinnert er sich. Damit wollte „Essen Packt An“ Obdachlose vor Infektionen mit Tetanus oder Tuberkulose schützen – erfolglos. Für Pajonk ist das indiskutabel. „Hauptsache die Obdachlosen sterben nicht an Corona. Dann gibt es eine Kerze und einen Artikel in der Tageszeitung. Dass im Sommer beispielsweise mehr Obdachlose an einem Hitzetod sterben, hat letztes Jahr keine Sau interessiert.“

Neben der Bürokratie häufen sich unter Obdachlosen weitere Gründe, die gegen einen Aufenthalt in einer Notschlafstelle der Stadt sprechen, angefangen bei der Barrierefreiheit. „Die Unterkunft an der Lichtstraße ist nur via Treppe zugänglich. Im Jahresdurchschnitt leben aber zwei bis drei Menschen mit Rollstuhl und schwerer Gehbeeinträchtigung auf den Straßen”, konstatiert Pajonk. Zusätzlich bestünden Ängste, einerseits vor einer Infektion mit dem Coronavirus, andererseits vor Mobbing durch andere Personen innerhalb der Unterkünfte. Auch Akzeptanz spiele, so Pajonk, eine Rolle: „In eine Notschlafstelle zu gehen, damit ist ein Schamgefühl verbunden. Der Gedanke dahinter ist: Ich schlafe lieber allein draußen, weil ich es alleine in dieser Welt schaffen möchte.“

Housing First für die Zukunft

Damit Obdachlose künftig nicht länger solchen Hürden und Ängsten ausgesetzt sind, wünscht sich Pajonk, dass sich das aus den USA stammende Projekt „Housing First“ in Deutschland durchsetzt (akduell berichtete). Dessen Ziel ist, Obdachlosen schnellstmöglich eine eigene Wohnung zu verschaffen – auch ohne strenge Auflagen wie Alkoholverzicht. Ebenso verhindert das Projekt eine direkte Konfrontation der Obdachlosen mit Mahnschreiben oder Bußgeldbescheiden beim Besuch ihre Meldestelle. Das sorge, so Pajonk, vermehrt dazu, dass man sich als Versager:in sieht, von der Last erdrückt wird und sich ultimativ nicht mehr bei der Poststelle meldet. Dann drohen rechtliche Mittel seitens der Absender:innen, zum Beispiel Suchanzeigen. Konkret löst „Housing First“ das Problem so: „Man erhält dann eine eigene Wohnung mitsamt eigener Postadresse. Doch die Schreiben werden erst einem Berater zugestellt, der sie schrittweise mit einem durchgeht, sodass man nicht direkt mental überfordert ist.“

Im Land NRW haben der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Wohnungslosenhilfe fiftyfifty bereits einen Fonds gegründet, der den Ankauf von Wohnungen für „Housing First“ unterstützen soll. In Essen verfolgt derzeit das Projekt „sta(d)tt-Brücke“ den Housing-First-Ansatz und soll noch bis Ende 2022 weiterfinanziert werden. Wie es danach aussieht, ist momentan ungewiss. In der Zwischenzeit hofft Pajonk auf mehr Offenheit gegenüber Obdachlosen. Man solle „einfach mal auf Menschen zugehen und fragen: Möchtest du einen Kaffee?“ Wichtig sei dabei, sich nicht als Richter:in zu sehen, selbst wenn die Person den Kaffee wegkippt und stattdessen nach einem Bier fragt. Bringt man das nicht übers Herz, sei das auch kein Problem, solang man nicht urteilt, sondern die Situation annimmt, wie sie ist.

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