KULTUR
Wenn Signe Pierce ihr Smartphone zum Selfie ansetzt, dann ist das Performance Art. Selfie-Choreographie nennt sie die kleinen Clips, die sie dann in ihrer Instagram-Story teilt und in der sie die Kamera in einer wilden Fahrt um sich herum führt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Pierce ist nicht allein: Eine junge Generation Künstler*innen hat das Soziale Netz seit Jahren für sich entdeckt – beinahe symbiotisch wird hier Kunst für die breite Masse geteilt, die innovativ aus den Funktionen der Plattform heraus entsteht. Wir stellen drei von ihnen vor.
@signepierce
Die New Yorkerin Signe Pierce ist das, was man als „Femme“ bezeichnen würde, sie selbst sagt „hyperfeminin“. Sie ist groß, schlank, blond – die Art von Frau, die man sonst in der Kunstwelt als Künstlerin eher selten sieht. Und das ist Absicht. Pierce spielt mit dem

Signe Pierce, 28, New York, setzt auf flashiges Neon und eine überzeichnete Charakter-Blondine.
Klischee der Blondine und wie die Welt auf sie reagiert. Bekannt wurde sie mit dem 15-minütigen Youtube-Video AMERICAN REFLEXXX, in dem sie begleitet von der Filmemacherin Alli Coates durch die nächtlichen Straßen von Myrtle Beach, South Carolina läuft. Bekleidet in einem sehr kurzen blauen Kleid, High Heels und einer Spiegel-Maske. Von Passant*innen wird die anonym wirkende und durch die Maske ein Stück weit entmenschlichte Künstlerin dabei getriezt und ausgegrenzt. Am Ende des Clips wird sie brutal angegriffen.
„Ich möchte einen Spiegel halten, damit wir besser verstehen, wie wir die Welt sehen und wie wir uns gegenseitig behandeln“, erklärt die 28-Jährige dazu in einem Arte-Interview. Seit dem Youtube-Hit aus dem Jahr 2015 ist sie auf Instagram als @signepierce unterwegs und hat ihr Portfolio ausgeweitet. Besucht man ihre kleine Ecke von Instagram, springt einer*m die volle Ladung Neon ins Gesicht. Sie will die Ästhetik der Plattform, des gesamten Netzes einfangen und spiegeln. Deshalb die grellen Farben und die Textualität, die die Gegenstände oder die Protagonistin optisch aus dem Bild heraus hebt und beim Ansehen beinahe schmerzhaft ist. Man soll geflasht werden von ihrem Insta-Album – genauso wie von den Selfie-Choreographien, die sie etwa auch im Louvre in Paris durchzieht. Ein Schock für die Kunstwelt will sie sein, auch wenn sie ihre Platform-Art auch offline etwa in ihrer Ausstellung FAUX REALITIES (dt.: Gefälschte Realitäten) zeigt.
@rupikaur_
Swipet man auf die Seite der Kanadierin Rupi Kaur, findet man das Gegenteil. Scharze und weiße Schrift dominieren abwechselnd mit Fotos der 25-Jährigen Literatin, die wohl die bekannteste Poetin auf der Plattform ist. Angefangen mit einem Tumblr-Blog, wechselte sie

Rupi Kaur, 25, Toronto, ist die bekannteste Autorin im Sozialen Netzwerk und begeistert Millionen mit Gedicht-Quadraten.
2014 auf Instagram und stellt seitdem kleine weiße Quadrate mit Gedichten und von ihr angefertigten kleinen Illustrationen im Netz aus. Sie weiß das Medium zu nutzen. Kaurs Familie stammt aus Indien, sie selbst ist in Punjab geboren – ihre englischsprachige Lyrik ist deshalb als Würdigung ihrer Kultur durchgehend in klein und ohne Punkt und Komma geschrieben, wie in der indischen Gurmukhi-Schrift üblich.
Stilistisch bewegt sich Rupi Kaur auf den Spuren indischer Poet*innen, adressiert aber die Moderne. Thematisch springt sie zwischen Liebe, Selbstliebe, Feminismus und Antirassismus hin und her. So schreibt sie: „viele versuchen es / aber sie können nicht den unterschied sehen / zwischen einer ringelblume und meiner haut / beide sind eine orangene sonne / die jene blendet die es nicht gelernt haben das licht zu lieben“. Darunter ist eine Illustration einer aufgehenden Sonne zu sehen, als Bildunterschrift auf Instagram trägt sie sieben Sonnen-Emojis ein. Mittlerweile hat die Autorin zwei Anthologien, milk and honey (2014) und the sun and her flowers (2017), publiziert und tourt mit ihrer modernen Lyrik durch die Welt.
@kaazaw
Instagram wird vor allem in den USA (danach in Brasilien und Indien) genutzt, auch wenn die Nutzer*innen-Zahlen weltweit steigen: Auf mittlerweile 1 Milliarde Menschen, die zumindest monatlich aktiv sind. Was macht das mit allen, die in anderen Teilen der Welt leben

Ali Kazemi, Iran, bewegt mit seinen Porträtfotos von Jugendlichen und dem dazugehörigen Mikro-Blogging.
und nicht den US-amerikanischen Lifestyle haben (können)? Das zeigt Ali Kazemi. Der iranische Blogger nutzt das Format Instagram vor allem für Porträt- und Fotostrecken aus seinem Herkunftsland. Derzeit ist seine Reihe #1000PeopleProject zu sehen, in dem er Jugendliche im Iran fotografiert, die mit dem Bild der USA-hassenden Iraner*innen brechen, das ihnen vom autoritären und theokratischen Regime vermittelt wird.
Denn viele junge Menschen im Iran sind – eben auch durch die Sozialen Netze – beeinflusst von der US-amerikanischen Kultur. Zu sehen ist etwa ein Mann, der eine Batman-Maske und ein Rugby-Shirt trägt und sich eine Waffe an die Schläfe hält. Darunter findet man die Notizen, die sich Kazemi gemacht hat, in denen der anonym Fotografierte sagt: „Ich habe vergessen, mein Batman-Kostüm mitzubringen, aber ich habe diesen schwarzen Tschador (Anm. d. Red.: ein großes Tuch in Halbkreisform, das von Frauen getragen wird um sich zu bedecken), den ich das nächste Mal tragen werde.“ Der Macher des Blogs ist kaum zu sehen, nur die Hälfte seines Gesichts in einem Schwarz-Weiß-Foto der Serie Straight Story. Dort fotografiert er sich selbst mit einem Smartphone im Rückspiegel eines Autos; vor ihm läuft ein gespenstisch wirkender junger Mensch ins Aus des Fotos.
Ob Poesie, Foto, multimediale Darstellung, Musik, Comics, Stickereien, Malerei – Instagram ist ein Hort der Kunst geworden. Die Funktionen für Bild, Text und Video laden geradezu ein, von Kunstschaffenden eingenommen und ausgereizt zu werden. Es sind junge Menschen, die zeigen, was geht. Gefolgt von teilweise Millionen anderer junger Menschen, die dadurch täglich Kunst konsumieren und teilweise auch Ausschnitte des Privatlebens der Künstler*innen miterleben. Mit nur ein paar Klicks.