KULTUR
Sobald es draußen kalt genug ist, dass Raucher anfangen sich zu beschweren und die mangelnde Sonne einem jegliche Motivation raubt, wird es Zeit die schönen, sommerlichen Playlists auszumustern. Für diejenigen, die mal eine Abwechslung von den immer gleichen drei Weihnachtssongs brauchen, haben wir eine Liste russischsprachiger Post-Punk und Coldwave Alben zusammengestellt, die erst ihr wahres Potential entfalten, wenn der Weg zur Arbeit im dunkeln stattfindet.
Molchat Doma - Этажи („Etagen“)
Als Inbegriff der hier gesuchten Atmosphäre, fängt die weißrussische Band Molchat Doma das bedrückend nostalgische Gefühl verlassener sowjetischer Gebäude („Molchat Doma" bedeutet wörtlich übersetzt „die Häuser schweigen“) in ihrem Sound unverkennbar ein. Eingehende Gitarrenmelodien und Basslines, dumpf und hallig, erwecken das Gefühl einer Melancholie, nach der man sich fast schon sehnt. Robotisch programmierte Drumcomputer, die direkt aus den Achtzigern stammen müssen, betten diese Instrumente mitsamt einer in dem Mix vergrabenen und in Hall getränkten Stimme ein, die bloß aus der Ferne eine Wehleidigkeit erahnen lässt. Sie schaffen zusammen eine kalt kontrollierte Vulnerabilität, wie es vermutlich zuvor noch kaum eine Band geschafft hat. Besonders hervorzuheben sind die Vertonung des Gedichts Эмалированное судно von Boris Ryzhy und der Ohrwurm Тоска.
Für Fans von: Current Joys, Edwin Rosen und Luis Ake
Ploho - Бумажные бомбы („Papierbomben“)
Ploho gehen in ihrer aufreibenden Darstellung des Gefühls in einer beengenden, zensierenden Diktatur zu leben einen ähnlichen und doch etwas raueren Weg als Molchat Doma. Während die zuvor erwähnte Band durch emotionslose, abgestumpfte Abwesenheit dieses Gefühl hervorruft, schafft Ploho dies durch unpolierte Frustration in Sounddesign und Intonation des Leadsängers. Sie werfen den Zuhörer in ein Gefühl der hilflosen Rebellion. Ähnlich in Stil, Songwriting und Aufbau (kurz gesungene Passagen, abgelöst durch reine Gitarrensoli) ist es hier dennoch der nächstmögliche Verwandte der zuvor gelisteten Band. Das Highlight des Albums ist das nervenaufreibende Город устал.
Für Fans von: Buzz Kull oder HighSchool
ssshhhiiittt! - Я так ненавижу это („Ich hasse es so sehr“)
Der größte Ausreißer dieser Alben ist die Band ssshhhiiittt! mit ihrem Debüt-Album Я так ненавижу это. Eher dem Garageband Punk zuzuordnen, finden sich hier gänzlich andere Soundkulissen als die Bisherigen. Fast schon kitschig-dramatisch verzerrte Gitarren schaffen eine stumpfe Tragik, die in jedem von uns den verbitterten Jugendlichen ansprechen, der sich nach einfachem Ausdruck simpler Emotionen sehnt und keine Geduld für Nuance oder Subtiles hat. Ebenso Lo-Fi wie Этажи und Бумажные бомбы, wirkt es in diesem Fall weniger gewollt als einfach nicht besser gekonnt. Dies sorgt jedoch für eine Authentizität, die das Songwriting treffend vervollständigt. Am besten zu hören auf den Tracks Корабль und В баре.
Für Fans von: Buerak und The End of Electronics
Kino - Группа крови („Blutgruppe“)
Keine Liste russischsprachiger Rockbands wäre ohne eine Erwähnung der Band Kino vollständig. Als vermutlich einflussreichste und bedeutsamste Band der sowjetischen Geschichte, hat zweifellos jedes andere hier vertretene Projekt Inspiration in ihr gefunden. Während andere Bands versuchen, das Gefühl nachzuempfinden und einzufangen, haben Kino es gelebt. Einzigartiges Songwriting und die charakteristischen simplen Leadgitarren, die einen den ganzen Tag nicht verlassen, zeichnen Kino aus. Lyrics, die eine poetisch-romantische Ader des Sturm und Drang mit einer dauerhaften Katz- und Mausjagd der subtilen Systemkritik und potenziellen Zensur paaren, sind nur einige der Gründe, warum Frontmann Wiktor Zoi zu einer der größten Ikonen sowjetischer Musikgeschichte wurde. Theoretisch hätte jedes ihrer Alben hier verdient stehen können. Группа крови ist es geworden, da sich hier vermutlich ihr größter, gleichnamiger Hit Группа крови und mein persönlicher Favorit Спокойная ночь finden.
Für Fans von: Joy Division oder Aquarium