GESELLSCHAFT
Auf den ersten Blick haben Schlager, Soul und Punkrock wenig gemeinsam. Doch von Helene Fischer bis Green Day basieren fast alle modernen westlichen Songs auf dem gleichen Tonsystem – dem Dur-Moll-System.
Das Dur-Moll-System ist die Grundlage der meisten Melodien, die wir am Tag hören. Der Encyclopædia Britannica zufolge ist das Dur-Moll-System ein Prinzip der Organisation musikalischer Kompositionen um einen zentralen Ton, Tonika oder Grundton genannt. In der Tonart C-Dur ist der Ton c die Tonika, also der Grundton. Dieses System verwendet die Noten der Dur- und Moll-Tonleiter, das sind auf- oder absteigende Folgen von Tönen, als Grundlage für den Aufbau von Melodien und Akkorden. Vor der Etablierung des Dur-Moll-Tonsystems waren in Europa seit dem Mittelalter die Kirchentonarten verbreitet. Doch wieso hat es sich in der westlichen Popularmusik
durchgesetzt?
Laut Dr. Julian Caskel, Musikwissenschaftler der Folkwang Universität der Künste, kann die Verbreitung des Dur-Moll-Systems in der Zeit des Barocks verortet werden, also zwischen dem Ende des 16. und Mitte des 18. Jahrhunderts. „Damit hängt das Aufkommen von Orchestern und Opern zusammen, also große Aufführungen, die über mehrere Stunden eine Geschichte mithilfe von Musik erzählen. Dafür braucht man das Dur-Moll-System als Orientierung.“ Es gebe jedoch keine klare Antwort darauf, warum es sich gegenüber anderen Tonsystemen etablieren konnte.
Musik über den Moment hinaus festhalten
Auf der einen Seite gibt es Theorien, die sagen, dass es eine Art zufälliger statischer Prozess war. „Es wurde häufiger verwendet, dann hat man sich daran gewöhnt und irgendwann war es einfach das, was alle benutzt haben“, mutmaßt Caskel. Eine andere Theorie besagt, dass es natürliche Gründe gibt. Unser Gehirn soll dem Dur-Moll-System besonders zugeneigt sein: „Das System soll das bessere Angebot für unsere Ohren haben“, so der Musikwissenschaftler. Diese Argumentation sei jedoch schwierig zu beweisen.
Das Dur-Moll-Tonsystem zeichnet unter anderem aus, dass es keine Tonabstände gibt, die kleiner sind als ein Halbtonschritt. Ein bekanntes Beispiel für einen Halbtonschritt ist der Anfang von Beethovens „Für Elise“. Andere Tonsysteme, wie die arabischen Maqam, kennen kleinere Tonabstände, zum Beispiel die Vierteltöne. Auch in der antiken griechischen Musik gab es kleinteiligere Musik. „Es ist so, dass eher die westliche Musikkultur, die dann sehr dominant geworden ist, hier eine Ausnahme darstellt. Wenn man versucht, diesen Sonderweg zu erklären, muss man in zwei Schritten argumentieren“, sagt Caskel. Der erste sei die Verschriftlichung. Schriftlichkeit bevorzuge wenige, aber klare Kategorien. Das könne den Schritt von den komplexen Kirchentonarten zum vereinfachten Dur-Moll-System erklären. Das zweite sei Mehrstimmigkeit, beispielsweise wie in einem großen Orchester. Wenn man versuche, das zu koordinieren, sei es einfacher, nur wenige Kategorien zu haben.
„Dann wäre da noch die Frage, warum die Popularmusik des 20. und 21. Jahrhunderts das System weitgehend für sich übernommen hat und sich in diesem Bereich wenig verändert hat.“ Für Caskel hängt das damit zusammen, dass die Popularmusik-Geschichte immer auch eine Geschichte von Musikverlagen war, die Dinge verkaufen wollten. „Das Publikum erwartet von Musik, dass das, was live dargeboten wird, mit dem auf der Platte zu tun hat. Das erzeugt eine gewisse Standardisierung.“ Auch für Musikunterricht seien Standards nötig, die festgelegten Unterrichtsnormen in anderen Fächern entsprechen. Die Etablierung des Dur-Moll-Systems entspringe also dem Versuch, Musik auch über den Moment hinaus festzuhalten und zu überliefern.